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Aus: Sieg & Befreiung, Beilage der jW vom 07.05.2025
8.Mai

Doppelte Befreiung

Dank den Alliierten: Der Sieg über den deutschen Faschismus hatte weltgeschichtliche Bedeutung. In vielen Ländern Europas wurde der Kapitalismus überwunden, der antikoloniale Kampf ging in seine entscheidende Phase
Von Arnold Schölzel
Sieger und Befreier an der Siegessäule. Soldaten der Roten Armee feiern das Ende des Krieges gegen Nazideutschland, Berlin, 8. Mai 1945
Das Siegesbanner hissen. Rotarmisten mit Generaloberst Nikolai Erastowitsch Bersarin (l.), erster sowjetischer Stadtkommandant, Berlin, 20. Mai 1945

Es schmälert nicht den Anteil der Soldaten der anderen alliierten Armeen am Sieg über den Hitlerfaschismus, wenn insbesondere jene, die in der DDR gelebt oder in der Friedensbewegung der BRD im Kalten Krieg gewirkt haben, den Heroismus der Roten Armee hervorheben. Kein anderes Land hat dem zweiten Griff des deutschen Imperialismus nach der Weltmacht so standgehalten wie die Sowjetunion. Kein anderes Land erfuhr den Vernichtungswillen der deutschen Faschisten auf eigenem Boden so wie der erste Arbeiter- und Bauernstaat der Menschheitsgeschichte. Es bedurfte vor allem einer Armee, der bewaffneten Gewalt der Sowjetunion, um die Völkermordpläne zunichte werden zu lassen.

Diese sahen vor, dass bis zu 40 Millionen Sowjetbürger Ende 1941 ausgerottet und alle übrigen dem Tod geweihte Sklaven der Herrenrasse sein sollten. Das Wissen um diese Absichten, die 27 Millionen Sowjetbürgern das Leben kosteten, trennt bis heute große Teile der Ost- von Westdeutschen. Die Bundesrepublik wurde gegründet, um den Sieg der Roten Armee rückgängig zu machen. Die DDR wurde gegründet, um das zu verhindern. Das waren Feuer und Wasser und sind es geblieben. Ich weiß aus eigener Kindheits- und Jugenderfahrung, dass »der Russe«, »der Iwan« in der Bundesrepublik der 50er Jahre als Schrecken galt. An meiner Volksschule in Niedersachsen wurde jährlich über mehrere Tage hinweg an die »Vertreibung« erinnert und daran, dass Ostpreußen und Schlesien »unser« seien. Die Westdeutschen insgesamt waren Kriegsopfer. Damals wurde die BRD zum ersten Mal kriegstüchtig gemacht. Bis in alle Bildungseinrichtungen hinein schrieb der westdeutsche Staat die Hetze fort, die von der »Antibolschewistischen Liga« 1919 bis zur Nazipropaganda im Zweiten Weltkrieg die deutsche Bevölkerung kriegsreif gemacht hatte. In den 50er und 60er Jahren bejubelten die Medien bis auf die der KPD, der VVN oder von aus der SPD geworfenen Aufrüstungs- und NATO-Gegnern die westdeutsche Wiederbewaffnung.

Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels hatte im Februar 1945 die Konferenz der Alliierten in Jalta auf der Krim mit den Worten kommentiert, bei einer deutschen Kapitulation werde sich vor den sowjetisch besetzten Gebieten, »sofort ein eiserner Vorhang heruntersenken, hinter dem dann die Massenabschlachtung der Völker begänne«. Diese These war ein ungeschriebener Artikel des Grundgesetzes der Adenauer-BRD. Geschrieben stand darin allerdings, das Deutsche Reich müsse in den Grenzen von 1937 wiederhergestellt werden. Das wurde im Zuge des DDR-Anschlusses aus der Präambel entfernt, die Goebbels-These wird heute aber in Bezug auf die Rote Armee und deren Rolle bei der Befreiung dreister vertreten als damals.

Soziale Befreiung

Der Sieg aller Alliierten über den deutschen Faschismus 1945 war ein Meilenstein der Menschheitsgeschichte. Aber auch da gab es – aus marxistischer Sicht – einen enormen Unterschied: Allein die Rote Armee öffnete den Bewohnern der durch sie befreiten Territorien, also auch den Menschen in Ostdeutschland, ­zugleich die Tore zur sozialen Befreiung vom Kapitalismus. Damit wurden die antifaschistisch-demokratischen und sozialistisch-kommunistischen Kräfte der so­wjetischen Besatzungszone in die Lage versetzt, mehr als vier Jahrzehnte in einem Drittel Deutschlands ein ausbeutungsfreies Gesellschaftssystem aufzubauen. Es war eine doppelte Befreiungstat.

Und das galt zugleich weit über Europa hinaus auch in dessen Kolonien Europas und denen der USA. Die Befreiungskräfte dort stellten nach dem Zweiten Weltkrieg, der von Deutschland, Italien und Japan als Kolonialkrieg konzipiert worden war, mit größerem Nachdruck als nach dem Ersten Weltkrieg und nach der Oktoberrevolution die alte Weltordnung, die seit den Zeiten des Kolumbus fast 500 Jahre gehalten hatte, in Frage. Indonesien proklamierte seine Unabhängigkeit von den Niederlanden am 17. August 1945, Indien die von Großbritannien am 15. August 1947, am 1. Oktober 1949 wurde die Volksrepublik China gegründet und schüttelte das von den vereinten Westmächten, einschließlich des zaristischen Russlands und Japans, auferlegte koloniale Joch nach mehr als 100 Jahren ab. Weniger als zwei Jahrzehnte später hatten die europäischen Mächte bis auf Portugal fast alle ihre Kolonien verloren. Bis heute allerdings blieb der globale und koloniale Anspruch der USA. Oder ist es anders zu deuten, wenn sie rund um die Erde zwischen 800 und 1.000 Militärbasen errichtet haben? Wenn die fortschrittlichen Menschen auf dem Planeten in diesen Tagen auch das 50. Jubiläum von »Saigon ist frei!« feiern, dann ist das Ermutigung für die Zukunft. Seit 1975 haben die USA und ihre Verbündeten nicht einen ihrer neokolonialen Feldzüge wirklich gewonnen. Die Kräfteverhältnisse in der Welt haben sich – ausgehend von 1945 – verändert. Die kopflose Flucht der NATO aus Kabul vor vier Jahren ist Symbol dafür. Sie erinnerte an die Panik der US-Marionetten und ihrer scheinbar unschlagbaren Sponsoren in Südvietnam vor 50 Jahren. Der 20jährige Krieg in Afghanistan, der von einem SPD-Kriegsminister in der BRD 2002 als »Landesverteidigung am Hindukusch« verkauft wurde, lehrte aber auch: Der Imperialismus kann nicht anders, er muss und will Krieg führen.

Nationalistische Demagogie

Die NATO hat 1999 den Krieg wieder nach Europa gebracht und ihn seither nach Asien und nach Afrika exportiert. Die USA haben nach und nach alle Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge mit der Sowjetunion beziehungsweise Russland bis auf einen gekündigt, haben Raketenstationen in Polen und Rumänien aufgebaut und die NATO bis kurz vor Moskau und Sankt Petersburg ausgedehnt. Krieg, Rüstung und eine Staatsideologie, die in mehreren osteuropäischen Ländern den Faschismus rehabilitiert, haben die Bevölkerungen der imperialistischen Länder an die gewaltsame Beherrschung der Welt jenseits der Landesgrenzen gewöhnt. Die meisten wissen: Die Zerstörungen dort sind Voraussetzung für relativen Reichtum hier. Wenn aber die Vertriebenen an den Grenzen erscheinen, werden sie, nicht die Rohstoffsicherungskriege, also die Hauptursachen ihrer Vertreibung, zum Ursprung aller Probleme erklärt. Die Gemeinsamkeit in nationalistischer Demagogie, deren Übergänge zu faschistischer fließend sind, reicht vom SPD-Kanzler Olaf Scholz, der 2023 »Abschiebung im großen Stil« ankündigte, bis zur AfD, die unverhohlen Millionenfache Deportation ankündigt und an diesem Jahrestag des Tages der Befreiung mit 152 Abgeordneten die zweitstärkste Fraktion im deutschen Parlament stellt, darunter nicht wenige Faschisten.

Die Partei proklamiert offiziell Frieden mit Russland, schwimmt aber mit in der Hetz- und Hasswelle gegen die Russische Föderation. In einem Antrag der AfD-Fraktion im Brandenburger Landtag war Ende März zu lesen: »Von einem achtzigjährigen Jubiläum der ›Befreiung‹ zu sprechen«, sei »gerade im Hinblick auf die unmittelbar vor und auch nach der Niederlage begangenen Kriegsverbrechen der Roten Armee unangemessen und geschichtsvergessen.« Der Einreicher, ein Geschichtslehrer aus Bayern, nannte einen BSW-Antrag, in dem der Roten Armee und den Alliierten für die Befreiung vom Faschismus gedankt wurde, »stalinistische Geschichtsverdrehung«.

Da spricht das Herrenvolk, das auch hinter der »Handreichung« des Auswärtigen Amtes, keine russischen und belarussischen Vertreter zu Gedenkfeiern einzuladen, steckt. Sowjetische Tote, die Befreier vom Faschismus oder die Opfer des faschistischen Völkermords, müssen nicht geachtet, geschweige geehrt werden. Das passt zu diesem Staat, der zwecks Revanche für den 8. und 9. Mai 1945 gegründet wurde. Dessen Kanzler Friedrich Merz den Banderisten in der Ukraine den Marschflugkörper »Taurus« liefern will und gleich noch das Ziel ausgibt, die Brücke von Kertsch zu zerstören. Dabei werden es die Kiewer nicht belassen. Vor zehn Jahren, nachdem die Krim Teil der Russischen Föderation geworden war, schlug Angela Merkel die Einladung zur Teilnahme an den Feierlichkeiten in Moskau am 9. Mai aus, flog aber am 10. Mai dorthin. Für den diesjährigen »Tag des Sieges« hat der ­ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij den Teilnehmern der Feierlichkeiten in Moskau – darunter ­Chinas Präsident Xi Jinping und Brasiliens Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva und weitere gut zwei Dutzend Staats- und Regierungschefs – bis zum Redaktionsschluss dieses Textes bereits zweimal mit einem Angriff gedroht.

Halbe Befreiung

Das ist der folgerichtige vorläufige Endpunkt einer Gegenentwicklung, deren Anfänge bis ins Jahr 1945 reichen. Die enorm gewachsene Sympathie für die Sowjetunion, ihre Armee und ihre Rolle beim Sieg über den Faschismus erkannten Köpfe wie Winston Churchill als ernstes Problem für den Imperialismus. Die Verunglimpfung der sowjetischen Führung, der Roten Armee und des realen Sozialismus insgesamt war ein Hauptbestandteil des Kalten Krieges. Nach dem Ende der Sowjetunion setzte auf dieser Grundlage eine neue Ära der Umdeutung 8. und 9. Mai ein: Es hatte keine Befreiung gegeben oder nur eine halbe. Der 2016 verstorbene Historiker Kurt Pätzold schrieb dazu 2015 in der damaligen jW-Beilage zu diesen Daten: »Seit geraumer Zeit wird daran gearbeitet, die Geschichte des 8./9. Mai 1945 unter der Überschrift ›Zweierlei Kriegsende‹ umzuschreiben. Das soll besagen: Nur ein Teil Europas wurde damals befreit, der andere tauschte eine totalitäre Herrschaft gegen eine andere, der faschistischen folgte die kommunistische Diktatur. Dieser Teil habe das Tor zur Freiheit nach 1990 doch noch durchschritten.«

Zehn Jahre danach, mitten im NATO-Stellvertreterkrieg gegen Russland, bestätigt sich Pätzolds Analyse in einer Weise, die er nicht ahnen konnte. Der Hauptanteil der Roten Armee am Sieg der Alliierten über Nazideutschland wird in NATO- und EU-Staaten bestritten – in den baltischen Ländern, der Ukraine und Polen ist allein von zweiter Besatzung die Rede. Denkmäler für sowjetische Soldaten werden dort systematisch geschleift, Nazikollaborateure geehrt. Die Drohung Selenskijs für den wahrscheinlich wichtigsten Feiertag der Russischen Föderation ist die Fortsetzung der Politik des Westens unmittelbar nach 1945: Die Einbindung der Faschisten dieser Länder in den Kampf gegen die Sowjetunion – bis Anfang der 50er Jahre auch bewaffnet, dann durch Aufnahme auch von Kriegsverbrechern, SS-Leuten in der BRD, Großbritannien, Kanada und den USA. Sie standen trotz aller Auslieferungsversuche der sowjetischen Justiz unter dem Schutz westlicher Regierungen und Geheimdienste. Sie bildeten nach 1991 die Basis der neuen politischen Führungen. Noch ist unklar, ob diese Kräfte durch Donald Trump plötzlich ihren Hauptsponsor verlieren, die EU und die europäischen NATO-Staaten sind auf jeden Fall bereit, die Lücke zu füllen – einschließlich der Pflege nazistischer Traditionen.

Das Gedenken am 8. und 9. Mai ist in der BRD offiziell gestattet – wenn auch nicht allen. In Berlin, das in diesem Jahr den 8. Mai zum gesetzlichen Feiertag erhoben hat, bedachten die Behörden in den vergangenen Jahren bereits alle, die der Kriegstoten gedenken wollten, mit Polizeischikanen unter absurden Begründungen.

Um so wichtiger erscheint es daher, an diesem 80. Jahrestag zu sagen: Dank allen Soldaten der Alliierten. Und besonderer Dank an die Rote Armee, die den Hauptanteil der Befreiung trug. Ihr Sieg hat die Welt verändert – bis heute. Um diese Veränderung rückgängig zu machen, bereiten die in der BRD Regierenden und ihre Partner in EU und NATO angestrengter denn je Krieg vor - gegen Russland, gegen China und darüber hinaus. Für die Herrschenden der imperialistischen Länder ist das weltweite Gedenken von Millionen Menschen an den Tag der Befreiung und des Sieges dabei ein Hindernis.

Arnold Schölzel ist Mitglied der jW-Chef­redaktion.

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