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Aus: Behindertenpolitik, Beilage der jW vom 10.04.2024
Beilage Behindertenpolitik

Recht auf Nichtwissen

Vorgeburtliche Bluttests auf Trisomien werden mittlerweile von den Krankenkassen bezahlt. Bundestagsabgeordnete fordern Gremium zu gesellschaftlichen Folgen
Von Claudia Wrobel
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»Jetzt ist es so weit, jetzt steht man dem Verschwinden gegenüber«

Hauptsache gesund – jahrhundertelang war dies vor allem eine Hoffnung, die werdende Eltern formuliert haben. Aufgrund der Möglichkeiten vorgeburtlicher genetischer Untersuchungen scheint sich dies jedoch in einen realisierbaren Wunschkatalog verwandelt zu haben, mit gravierenden gesellschaftlichen Auswirkungen. Die Abwesenheit von Krankheit und Behinderung ist kein Wunsch mehr, sondern kann zu einer Entscheidung werden. Im Umkehrschluss wird Barrierefreiheit und (fehlende) Unterstützung nicht mehr zu einer gesellschaftlichen Aufgabe, sondern zu einem individuellen Problem.

Seit etwa zwölf Jahren können sogenannte Trisomien bei einem Embryo noch vor der Geburt relativ sicher durch einen Bluttest der Schwangeren diagnostiziert werden. Bei Trisomien sind bestimmte Chromosomen in den Zellen dreifach statt zweifach vorhanden. Chromosomen sind diejenigen Strukturen der Zellen, die unsere Gene enthalten. Am bekanntesten ist sicherlich die Trisomie 21, das sogenannte Downsyndrom. Vorgeburtliche genetische Untersuchungen, in Fachkreisen nichtinvasive Pränataltests (NIPT), werden aber auch eingesetzt, um die Trisomien 13 und 18 zu entdecken. Die letztgenannten gehen mit einem sehr hohen Risiko von spontanen Fehlgeburten einher beziehungsweise mit einer sehr geringen Lebenserwartung, sollte der Fötus bis zur Geburt überleben. Die Lebenserwartung bei Trisomie 21 hingegen beträgt mehr als 50 Jahre, und auch die Prognose für eine gute Lebensqualität von Kindern und Erwachsenen mit Downsyndrom ist vielversprechend. Trotzdem ist es vor allem die Trisomie 21, die die öffentliche Debatte über NIPT prägt und die letztlich auch dazu geführt hat, dass die Tests seit rund zwei Jahren, seit dem Sommer 2022, als Leistung der gesetzlichen Krankenkassen erstattet werden können. Zuvor mussten werdende Eltern die Kosten selbst tragen.

Monitoring eingefordert

Problematisch ist der Test zum einen auf der individuellen Ebene, da die Ergebnisse in vielen Fällen falsch-positiv sein können, insbesondere bei jüngeren Schwangeren. Diese unterziehen sich dann mitunter invasiven und potentiell gefährlichen weiteren Untersuchungen, um ein Ergebnis abzusichern. Oder sie missverstehen das Ergebnis – das lediglich eine Wahrscheinlichkeit ausdrückt – als Diagnose und beenden eine gewünschte Schwangerschaft ohne weitere Untersuchungen. Außerdem berichten Diagnostiker, dass durch die Kostenübernahme andere sinnvolle, doch nicht von den Krankenkassen erstattbare, Untersuchungen nicht mehr so oft in Anspruch genommen werden. Damit fielen Schwangerschaftskomplikationen und weitere Erkrankungen oftmals später auf, und es sei bereits zu beobachten, dass sogenannte Spätabbrüche, also das Beenden weit fortgeschrittener Schwangerschaften aufgrund gesundheitlicher Risiken, zugenommen hätten. Dies ist meist sehr belastend für werdende Eltern.

In einem interfraktionellen Antrag haben Abgeordnete des Bundestags Ende Februar ein Monitoring der Kassenzulassung von NIPT gefordert. Bereits im April soll dieser im Parlament diskutiert werden. Dem Antrag zufolge soll ein Gremium eingerichtet werden, das zum einen auswertet, warum und wie oft die nichtinvasiven Pränataltests in Anspruch genommen werden, und zum anderen, welche Konsequenzen das hat, also wie viele Schwangerschaften aufgrund des Ergebnisses beendet werden. Denn daraus ergeben sich ethische, rechtliche, gesundheitspolitische und gesellschaftliche Folgen, die das Gremium ebenfalls untersuchen soll.

Mehr als jede dritte Schwangere hat einen NIPT im ersten Jahr der Kassenzulassung in Anspruch genommen. Das ist das Ergebnis einer Sonderauswertung von Abrechnungszahlen der gesetzlichen Krankenkassen, die von der antragstellenden Gruppe angefordert wurde. »Das ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der vorgeburtliche Trisomienbluttest nicht nur in begründeten Einzelfällen zum Einsatz kommt, wie es die Mutterschaftsricht­linie des Gemeinsamen Bundesausschusses vorsieht, sondern doch zur Routineuntersuchung in der Schwangerschaft geworden ist«, erläuterte Corinna Rüffer, Sprecherin der Grünen-Fraktion für Behindertenpolitik und eine der Initiatoren des Antrags. Trotzdem gibt es von seiten der Bundesregierung keine Initiativen, die Folgen der Bluttests auszuwerten. Als die Kassenzulassung des nichtinvasiven Pränataltests im Jahr 2019 im Bundestag diskutiert wurde, hatten Abgeordnete aller Fraktionen noch deutlich gemacht, dass es sich dabei eben nicht um eine Regeluntersuchung für alle Schwangeren handeln solle, sondern diese Untersuchung nur dann über die Kasse abgerechnet werden solle, wenn der Test individuell notwendig sei.

Die Debatte um die Diagnoseverfahren ist seither auch nicht verstummt: Im vergangenen Jahr brachte Bremen im Bundesrat einen entsprechenden Antrag zum Monitoring ein. Dieser wurde mit breiter Mehrheit angenommen, allerdings passierte seitdem exakt gar nichts. Die Bundesregierung schweigt zu dem Thema, was den Antrag der Bundestagsabgeordneten überhaupt erst nötig macht. »Unser Ziel muss eine selbstbestimmte Entscheidung über die Inanspruchnahme von Tests und ein verantwortungsvoller Umgang mit den Ergebnissen sein – hierzu brauchen wir mehr Wissen. Wir brauchen valide Daten über die medizinische Beratung der Schwangeren vor und nach der Inanspruchnahme eines NIPT, über die Inanspruchnahme der Abklärungsuntersuchungen, über weitere Unterstützungsangebote sowie zur Entwicklung der Geburtenrate von Kindern mit Trisomie 21«, erklärte Claudia Bernhard (Die Linke), Gesundheitssenatorin von Bremen, anlässlich des Welt-Downsyndrom-Tags am 21. März.

Fokus auf Trisomie 21

Hinter der Initiative steht die Sorge vieler Fachverbände und Betroffener, dass durch die breite Verfügbarkeit des Tests die Stigmatisierung von Familien mit Kindern mit Downsyndrom oder von Erwachsenen mit der Erbkrankheit zunimmt und langfristig die Unterstützungsangebote insbesondere für Kinder mit Trisomie 21 reduziert werden. In Nachbarländern, in denen der NIPT schon länger als Kassenleistung zugelassen ist, kommen mittlerweile deutlich weniger Kinder mit Trisomie 21 zur Welt, als statistisch erwartet, wie der Bremer Senat am 21. März erläuterte.

Denn bereits vor einigen Jahren war zu beobachten, dass es bei NIPT vor allem um das Downsyndrom ging und geht. Das Ärzteblatt hat im Jahr 2022, also dem Jahr, in dem die Kassenfinanzierung der Tests begann, in einer breiten Recherche aufgezeigt, dass keiner der Anbieter der Tests überhaupt die Möglichkeit vorsah, die Untersuchung lediglich auf die Trisomien 13 und 18 einzuschränken. Schwangeren war es bei einigen Tests demnach nur möglich, mit einem Kreuz auf einer Einwilligungserklärung anzugeben, über die Wahrscheinlichkeit einer Trisomie 21 informiert zu werden. Das widerspricht dem Gendiagnostikgesetz, das nicht nur definiert, dass und was untersucht werden darf, sondern das auch das Recht umfasst, »Untersuchungsergebnisse oder Teile davon nicht zur Kenntnis zu nehmen«. Es gibt also nicht nur ein Recht auf Wissen, sondern auch ein Recht auf Nichtwissen.

Wenn werdenden Eltern dieses Recht auf Nichtwissen im Falle einer Trisomie 21 abgesprochen wird, handelt es sich also um eine bewusste oder unbewusste Auslassung. Da es sich um eine rein beobachtende Recherche handelte, ist unklar, warum die Anbieter die Diagnose einer Trisomie 21 nicht ausnehmen. Klar ist jedoch, dass dadurch der medizinische Standard und schließlich auch die ­soziale Norm verschoben wird. »Der Druck der Gesellschaft, ein ›gesundes‹ Kind zur Welt zu bringen, wird durch solche Tests immer größer«, brachte es deshalb auch Ulla Schmidt, ehemalige SPD-Gesundheitsministerin und Bundesvorsitzende der Lebenshilfe auf den Punkt, als sie die fraktions- und gruppenübergreifende Initiative im Bundestag begrüßte.

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