junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Dienstag, 30. April 2024, Nr. 101
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Essayistik

Der nüchterne Blick

Widersprüche denken und Partei ergreifen: Aijaz Ahmads Aufsätze zum Irak-Krieg sind Übungen in illusionslosem Antiimperialismus
Von Kai Köhler
24.jpg
»Ohne Titel« (2023)

In den Jahren 2001 bis 2003 schrieb der Philosoph und Literaturtheoretiker Aijaz Ahmad für das indische Magazin Frontline eine Reihe von Artikeln, die die US-Kriege gegen Afghanistan und den Irak zum Thema haben. Eine Auswahl erschien 2004 in Buchform, ergänzt durch den Essay »Der Imperialismus unserer Tage«, der dem Buch seinen Titel gab.

Ist nun, wenn immerhin zwei Jahrzehnte später eine deutsche Übersetzung erscheint, dieser Titel noch angemessen? In der Zwischenzeit haben sich die globalen Machtverhältnisse geändert. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass manche der Einschätzungen Ahmads zutreffen. So erkannte er, dass die EU zu sehr von Interessengegensätzen belastet war, um unter deutsch-französischer Führung ein eigenständiger Akteur zu werden. Zu Unrecht aber hielt er den Gedanken für »abwegig«, dass China in näherer Zukunft den USA entgegentreten könne.

Doch ging es schon 2004 nicht darum, in jedem Punkt recht zu behalten. Bereits die Frontline-Artikel waren Einschätzungen auf teils unzureichender Informationsgrundlage, besonders was die erste Kriegsphase im Irak anging. Im April 2003, als es noch möglich schien, dass die US-Truppen in Bagdad auf entschiedenen Widerstand stoßen und im Häuserkampf zermürbt würden, war Ahmad optimistischer als angemessen. Ebenfalls setzte er vor Beginn der Kampfhandlungen Hoffnungen darauf, dass sich die Friedensdemonstrationen ausweiten, sich mit der Antiglobalisierungsbewegung verknüpfen und in den imperialistischen Zentren zu ernsthaften Auseinandersetzungen führen würden.

Beides bewahrheitete sich bekanntlich nicht. In den folgenden Artikeln und in für das Buch 2004 eingefügten Anmerkungen, benannte Ahmad die Gründe dafür, dass es anders kam als erhofft. Den USA war es gelungen, vor der entscheidenden Schlacht Akteure des irakischen Regimes zum Seitenwechsel zu veranlassen. Sobald diese Ebene wegbrach, hatte die unbeliebte Herrschaft Saddam Husseins, die Ahmad nicht beschönigte, keine Grundlage mehr. Der Widerstand in den imperialistischen Zentren zuvor war darauf gerichtet, den Krieg zu verhindern. Sobald dies gescheitert war, griff Resignation um sich, und nur die kleine Gruppe der politisch Bewusstesten demonstrierte weiter.

Hier hat man den ersten Grund, weshalb die Lektüre auch heute noch lohnt. Ahmad geht so redlich wie methodisch vor. Beim Schreiben benennt er, was er weiß und was er vermutet; im Rückblick zeigt er, wo man noch genauer denken muss, und warum. Wo nötig, markiert er Wissenslücken; wo widerlegt, beharrt er nicht auf Wunschdenken. Angesichts der gegenwärtigen und absehbaren Konflikte ist die Einübung in eine solche Haltung instruktiv.

Das betrifft auch die Wertungen. Ahmad steht auf der Seite des angegriffenen Irak und verklärt dennoch nicht den Kommunistenmörder Saddam Hussein, der als US-Marionette seine Karriere begonnen hat. Ebenso klar arbeitet er heraus, dass die Islamisten, die die USA in Afghanistan gegen jedes Völkerrecht bekriegten, erst durch Unterstützung der USA mächtig geworden sind – solange es nämlich gegen eine progressive, durch die Sowjetunion unterstützte Regierung ging. Kurz: Ahmad kann Widersprüche denken und zugleich Partei ergreifen.

Und das war notwendig. Die Wiederauflage der alten Artikel liefert wertvolle Argumente, dass sich Russland mit der Ausweitung des Ukraine-Krieges 2022 keineswegs gegen eine bis dahin intakte »regelbasierte Ordnung« gewendet hat. Vielmehr hat der Westen bereits 1999 mit dem Überfall auf Jugoslawien, dann aber mit den Angriffen 2001 auf Afghanistan und 2003 auf den Irak klargestellt, dass er seine Interessen ohne jede Rücksicht aufs Völkerrecht durchsetzt. Ahmad spricht nicht aus, legt aber nahe, dass dagegen nur eine ähnlich entschlossene Verteidigung Aussicht auf Erfolg hat. Die Taliban aber (man muss sie nicht mögen) boten an, Osama bin Laden einem internationalen Gericht zu überstellen und wurden dennoch angegriffen. Das irakische ­Regime (man muss auch dies nicht ­mögen) war so unvorsichtig, auf Massenvernichtungswaffen zu verzichten. Nachdem internationale Inspektoren beglaubigt hatten, dass der Irak dieses Drohpotential nicht hatte, folgte der Angriff.

Bereits zuvor hatten die USA im Irak einen Völkermord begangen. Ein Wirtschaftskrieg ist, verglichen mit einer militärischen Auseinandersetzung, oft nicht das mildere Mittel. »Sanktionen« – als hätte ein Verbrechen vorgelegen – fielen über ein gutes Jahrzehnt mehr als eine Million Iraker zum Opfer. Befragt nach 500.000 toten Kindern, gab ­Madeleine Albright, US-Außenministerin von 1997 bis 2001, zur Antwort, dies sei der Kampf gegen Saddam Hussein wert gewesen. Wer sich mit dem Imperialismus beschäftigt, sollte nicht erwarten, dass der Feind etwas zeigt, was einer menschlichen Regung ähnelt.

Das aber betrifft nur die Moral, nicht die Lageeinschätzung, um die es in der Politik vor allem geht. Nach der ersten Phase des Irak-Kriegs, also einige Monate nach dem Sturz von Saddam Husseins Regierung, als der Widerstand gegen die Besatzer stärker wurde, unternahm Ahmad eine grundlegende Einschätzung der Weltlage. Das bedeutet, ohne dass er es so bezeichnet, geopolitisch zu denken. In Deutschland ist das Wort verrufen, wegen des faschistischen Gebrauchs der Sache, die doch unverzichtbar bleibt. Der Ansatz erlaubt es, in der Kategorie von Machtverhältnissen zu denken statt in der von Wünschen.

Ahmad benennt, was 2004 verloren war. Die Entkolonialisierung hatte zumeist nationale Bourgeoisien an die Regierung gebracht, die aus inneren wie äußeren Gründen scheiterten. Von außen bekämpften die USA jeden Ansatz zu einer unabhängigen Entwicklung, ob der nun etwas mit Sozialismus zu tun hatte oder nicht. Im Inneren nahmen die meisten Regierungen wenig Rücksicht auf die Masse der Bevölkerung. Ahmad benennt kurz deren Verrat an der Bauernschaft als Schlüsselmoment – ein Gedanke, den auszuführen wichtig gewesen wäre. Resultat beider Faktoren, innen wie außen, war jedenfalls, dass fortschrittliche, säkulare Gruppen zurückgedrängt wurden. An ihre Stelle traten völkische Kämpfer und religiöse Fanatiker – letztere, wie Ahmad am Beispiel Afghanistan zeigt, erst durch westliche Unterstützung groß gemacht.

Ergebnis waren die USA als einzige Großmacht und, damit verbunden, das Ende einer ernsthaften innerimperialistischen Konkurrenz. Darum hielt Ahmad Lenins Imperialismustheorie für nicht mehr zeitgemäß und näherte sich Karl Kautskys Ansatz eines Ultraimperialismus, nach dem die führenden Mächte zusammenwirken.

Was hat sich davon bewahrheitet? Russland erwies sich, dank bitterer Erfahrungen, als weniger hörig denn von Ahmad befürchtet. China gelang ein Aufstieg, den er vor 20 Jahren nicht für möglich hielt. Damit gibt es wieder eine Konkurrenz von Machtblöcken, und nationale Bourgeoisien im globalen Süden erhalten den Bewegungsspielraum zurück, den sie vor der Kapitulation der Sowjetunion hatten. Das ist ein Fortschritt, der zu einer wirklichen Entkolonialisierung führen kann.

Zum Sozialismus ist dies allerdings bestenfalls ein halber Schritt, und das nicht nur, weil die USA immer noch der ökonomisch wie militärisch bei weitem mächtigste Staat der Welt sind. Mit Russland ist ein führender widerständiger Staat eindeutig kapitalistisch. In China, dem wichtigeren Gegner der USA, dauert die Auseinandersetzung zwischen privatunternehmerischer Marktmacht und sozialistischer politischer Kontrolle an.

Zudem sind die von Ahmad benannten irrationalistischen Schrumpfformen des Antiimperialismus immer noch da. Die Taliban haben gegen die USA gewonnen, aber sie stehen anders als die besiegten afghanischen Kommunisten für die grauenhafteste denkbare Gesellschaftsform. Vor allem die Hamas kämpft gegen den israelischen Kolonialismus, aber das ist auch schon das einzig Positive, was sich über sie sagen lässt und vernachlässigt auch ihre Methoden.

Was Ahmad vor 20 Jahren geschrieben hat, ist damit nicht nur eine Schule des Denkens. Es führt auch hin zu den Widersprüchen des Antiimperialismus unserer Tage. Angesichts des imperialistischen Terrors ist er notwendiger denn je. Zugleich ist er oft dann erfolgreich, wenn er sich – völkisch oder religiös – reaktionärer Elemente bedient. Dies ohne falsche Hoffnungen zu analysieren und daraus eine Praxis zu entwickeln, bleibt eine Aufgabe.

Aijaz Ahmad: Der Imperialismus unserer Tage. Die globale Offensive gegen die Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Ina Batzke, Mangroven-Verlag, Kassel 2024, 268 Seiten, 25 Euro

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

  • Partnerschaft auf Augenhöhe? Die Kämpfer der kurdischen YPG erfr...
    13.11.2017

    Great Game

    In Syrien wie im ­gesamten Nahen Osten ringen Regional- und Großmächte um Einfluss. Die Position der USA ist dabei ­schwächer geworden

Mehr aus: Feuilleton