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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Philosophie

Allem Anfang wohnt ein Begriff inne

Der Hegel-Forscher Klaus Vieweg versucht sich an einer eigenen Philosophiegeschichte
Von Marc Püschel
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»Pterodactylus« (2023)

Die Philosophie steht nicht hoch im Kurs in Deutschland. Abgesehen von einer Handvoll Populärgestalten, die abwechselnd die Talkshows der Republik in Beschlag nehmen, weiß man im Land der Dichter und Denker erstaunlich wenig von seinen Philosophen. Klaus Vieweg dürfte eine der wenigen Ausnahmen darstellen. Bereits mit seiner Hegel-Biographie erregte er ab 2019 über die Kreise der Fachphilosophie hinaus Aufmerksamkeit. Rund drei Jahre später gelang ihm ein öffentlichkeitswirksamer Jahrhundertfund: Der Jenaer Professor entdeckte im Archiv des Erzbistums München und Freising bislang unbekannte Mitschriften von Hegel-Vorlesungen im Umfang von rund 4.000 Seiten. Damit darf Vieweg als der wichtigste Hegel-Experte der Gegenwart gelten – auch, da vergleichbare Autoritäten wie Walter Jaeschke (1945–2022), Dieter Henrich (1927–2022) und Hans Friedrich Fulda (1930–2023) in den vergangenen zwei Jahren gestorben sind.

Systematische Geschichte

Dass er nicht nur in der Exegese stark ist, versucht der liebenswürdig-skurrile Professor – seine Bücher widmet er bevorzugt seinen Perserkatzen – nun mit einer eigenen Philosophiegeschichte unter Beweis zu stellen. Dem Anspruch nach stellt er sich mit »Anfänge. ­Eine andere Geschichte der Philosophie« zwar in die Nachfolge Hegels, will aber zugleich über diesen hinausdenken. Von Hegel übernimmt er den in der Gegenwart selten gewordenen strengen Anspruch, die Philosophiegeschichte selbst philosophisch zu behandeln, d. h. ihre Logik aufzudecken, anstatt sie als bloße Ansammlung von Lehrmeinungen zu verstehen. Vieweg gibt sich dabei selbst betont unzeitgemäß und versteht sich als »hegelianisch-verstockter Sämann philosophischen Unkrauts und als widerborstiger Häretiker« gegen den Zeitgeist.

Weniger verstockt, vielmehr klar und deutlich erläutert er sein eigenes Vorhaben wie folgt: »Es geht also um eine ›Systemgeschichte der Philosophie‹, um ein ›System von Systemen‹, aber hier exklusiv unter dem Gesichtspunkt des systemischen Anfangs, zugespitzt auf die Frage nach dem Ausgangspunkt.« Ein solches Unterfangen steht vor dem Problem, das Verhältnis der historischen Erscheinungsformen philosophischer Systeme zu der »zeitlosen« Logik ­ihrer begrifflichen Entwicklung klären zu müssen. Zu Recht konstatiert ­Vieweg hier ein Spannungsverhältnis, das ­Hegel – der in seiner Philosophie­geschichte das empirisch-historische und das logische Moment nur grob parallelisiert – nie richtig aufzulösen vermochte. Das entscheidende Desiderat liege »in der Konzeption der Idealtypen oder philosophischen Paradigmen, die bei Hegel weitgehend fehlen«.

Eine ebensolche Idealtypen-Konzeption will Vieweg leisten. Damit soll die geschichtliche Abfolge von Philosophien mit der logischen Stufenfolge von Begriffen zu einer dritten Formation synthetisch vereinigt werden. Diese bestehe aus einer Reihe von Idealtypen, die als paradigmatische Knotenpunkte eine eigene Entwicklung bilden. Gemäß der Metaphorik der Knotenpunkte zeigt das Buchcover übrigens eine »Khipu«, eine Knotenschnurschrift aus der Vor-Inka-Zeit, die über das Knüpfen von Knoten, ihre Abstände und Aneinanderreihungen funktionierte.

Auf Hegels Spuren

Dem Anspruch nach über Hegel hinausgehend, tritt Vieweg jedoch vorwiegend in dessen Fußstapfen. Seine Idealtypen sortiert er gemäß den drei Bereichen der Hegelschen Logik in Philosophien des Seins, des Wesens und des Begriffs. Als idealtypische Philosophien des Seins behandelt er das »parmenideische Sein«, das »buddhistisch-nagarjunaische Nichts« und das »heraklitische Werden« – Philosophien also, die in ­abstrakt-unmittelbaren Kategorien denken. Wie bereits in Hegels Logik bilden ihre Grundbegriffe dabei eine begriffliche Stufenfolge: Dem reinen Sein als dem Anfang stellt sich das Nichts als dessen Negation entgegen. Da sie beide dieselbe Inhaltsleere aufweisen, gehen sie ineinander über und werden im Werden in einer Einheit aufgehoben.

Zwar bringt Vieweg im einzelnen ­Aspekte ins Spiel, die bei Hegel unterbelichtet blieben, etwa den schärferen ­Fokus auf das buddhistische Nichts, doch letztlich ließe sich Viewegs Vorwurf an Hegel, er habe »nur Grundgedanken und erste Ansätze bereitgestellt«, auch gegen ihn selbst erheben. So wird die neue Methode der Idealtypen-Bildung kaum eigens thematisiert. Vieweg verweist beispielsweise darauf, dass »Heraklits Werden als historischer Gedanke eines Philosophen vom heraklitischen Werden als Idealtyp, als reine, raffinierte Formation zu unterscheiden« sei, aber es bleibt völlig ungeklärt, wie sich zwischen der historischen Erscheinungsform einer Philosophie und ihrem logischen Wesenskern differenzieren lässt. Bemerkungen zu Parmenides deuten ebenfalls darauf hin, dass hinter Viewegs Ansatz kein tieferschürfendes methodisches Instrumentarium steckt als das einfache Abstrahieren von historischen Umständen.

Auch die Philosophien des Wesens (Platon und Aristoteles) sowie des Begriffs (Transzendentalphilosophie, Fichtes und Hegels Philosophie) werden nur angerissen. Ebenso problematisch ist, dass alle Philosophie nach Hegel ignoriert wird. Dies ist zwar insofern verständlich, als sie bezüglich der systematischen Vollkommenheit hinter ­Hegel zurückfällt. Doch ist ein Rückfall in diesem Aspekt kein Argument dafür, dass die inhaltlichen Entwicklungen der Philosophie in den letzten zwei Jahrhunderten nicht auch dialektisch aufgehoben werden müssen. So entsteht eher der Verdacht, dass die Moderne deshalb ausgespart wird, weil sie die allzu strikt von Hegel übernommene Gliederung von Seins-, Wesens- und Begriffslogik sprengen würde.

Nicht nur die Grundgedanken, auch die anspruchsvolle Terminologie orientiert sich an dem Vorbild des schwäbischen Philosophen. Trotz einer mitunter bilderreichen Sprache dürfte das Buch daher viele Anfänger schnell aus der Bahn werfen. Eine vergleichbare Breitenwirkung wie der Hegel-Biographie wird dem Werk nicht vergönnt sein – was durchaus bedauerlich ist, denn trotz der unzureichenden Ausführung hätte Viewegs Buch allein aufgrund seines streng hegelianischen Anspruchs ein breites Publikum verdient.

Klaus Vieweg: Anfänge. Eine andere Geschichte der Philosophie. Verlag C. H. Beck, ­München 2023, 235 Seiten, 29 Euro

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