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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Mentalitätsgeschichte

Die DNS der Deutschen

Frank Trentmann hat eine gefällige Moralgeschichte der Menschen zwischen Rhein und Oder geschrieben. Klassenfragen interessieren ihn dabei nicht
Von Gerhard Hanloser
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»Koba« (2021)

Der in London lehrende Historiker Frank Trentmann hat mit »Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute« eine über 1.000 Seiten starke Mentalitätsgeschichte der Deutschen verfasst. »Die Deutschen«? »Die Moral«? In seinen Vorbemerkungen macht der Autor deutlich, dass er unterschiedliche Moraldebatten und -definitionen sehr wohl kennt, auch jene Unterscheidung von »­Herren- und Sklavenmoral«. Doch diese Unterscheidung verliert sich rasch in Generalisierungen wie »die deutsche Gefühlswelt« und einer Quellendarbietung, die eine Vielzahl von Einzelstimmen zur Kakophonie von Meinungen versammelt. Am Ende sieht man vor lauter Quelltexten – viel Holz, könnte man sagen – die vorherrschende Tendenz im deutschen Wald nicht mehr. Dies hat natürlich mit dem theoretischen Zuschnitt dieser Geschichtserzählung zu tun. Von Struktur- oder gar Klassengeschichte kann keine Rede sein. Ist die soziale Klassengeschichte erst einmal kassiert, werden selbst politische Grundpositionen der präsentierten Deutschen nicht mehr klar extrapoliert. Liberal, sozialistisch, konservativ, postnazistisch? Dass mit sozialen Lagen und politischen Einstellungen auch unterschiedliche Moralvorstellungen verbunden sind, scheint Trentmann zu ignorieren.

Fulminant startet der Autor inmitten des deutschen Vernichtungskriegs mit der Darstellung der deutschen Moral und »Anständigkeit« beim Ermorden von ­Juden, ­Slawen, »Kommissaren« und Partisaninnen. Hier wird im Kern nichts Neues präsentiert. Nur, dass Trentmann eine interessante Auswahl von persönlichen Dokumenten wie Briefen und Tagebucheinträgen in seine Moral­geschichte der Deutschen eingeflochten hat. Christopher Brownings und Daniel Goldhagens Darstellungen der »einfachen Männer«, die zu Hitlers »willigen Vollstreckern« wurden, ist theoretische Referenz (»Ordinary Germans« und die »Goldhagen-Debatte«, jW). Bei aller Problematik dieser Perspektive: Hier werden jene Zeitgenossen, die tatsächlich meinen, die Deutschen hätten verschämt und versteckt ihre Mordaktionen exekutiert, darüber aufgeklärt, dass es keineswegs nur Ausnahmen unter den deutschen Soldaten waren, die Freude empfanden, andere Menschen zu töten oder zu quälen. Allerdings bergen die Annahme, die Deutschen seien qua »kulturellem Code« zu vernichtungswütigen Antisemiten prädestiniert gewesen, sowie der zeitliche Ausgangspunkt der Untersuchung kurz vor Stalingrad auch einige Probleme. Seit 1933 waren schließlich alle, deren politische Ansichten mit denen der Nazis konfligierten, einer Terrordrohung der Gestapo ausgesetzt, wurden in »Schutzhaft« gebracht und in Konzentrationslagern interniert. Die Nazigegner konnten eine praktisch wirksame Moral nur unter Inkaufnahme heftigster Repression aufrechterhalten.

Dennoch sind die Passagen, in denen Trentmann mit Hilfe von Tagebuchaufzeichnungen von Wehrmachtssoldaten extrapoliert, dass ideologischer Antibolschewismus, die Vorstellung von Krieg als Kampf kosmischen Ausmaßes und systematisch begrenzte Empathiefähigkeit das Weiterkämpfen und Weitermorden mit gutem Gewissen ermöglichten.

In aller Schärfe macht der Historiker deutlich, wie sehr sich die Verantwortlichen und Mitläufer einer Auseinandersetzung mit den Verbrechen des »Dritten Reichs« entzogen – die einen verschämt, die anderen trotzig unbelehrbar. Er zeigt, in welch geringem Maße eine ernsthafte Entnazifizierung erfolgte, deren rasches Ende vor allem die FDP als Sammelbecken von Altnazis forderte. Erschreckend klar wird ebenso, wie isoliert jene waren, die die Verbrecher des deutschen Faschismus vor Gericht gestellt sehen wollten.

Die DDR kommt auch bei Trentmann nicht gut weg. Er spricht immerhin vom »Gründungsethos« (nicht: -mythos!) des selbsterklärten antifaschistischen Arbeiter- und Bauernstaates, landet aber gleich zu Beginn bei den »Zehn Geboten für den neuen sozialistischen Menschen« von Walter Ulbricht, die sich natürlich für die jetzigen Sieger der Geschichte ausgesprochen lächerlich anhören. Dass es aber in der DDR vor diesen 1958 auf dem V. Parteitag der SED aufgestellten Geboten auch andere Debatten um die Lehren aus der deutschen Vergangenheit gab, wird nicht einmal gestreift. Dabei hätte es einem Buch über die deutsche Moral und die Moral aus der deutschen Geschichte gut angestanden, in gleicher Ernsthaftigkeit und Informiertheit die frühen Debatten in Sinn und Form oder in der Kulturzeitschrift Aufbruch darzustellen – wie die Ausführungen von Westzonendebatten oder die Darlegungen Karl Jaspers’ über die politische Verantwortung der Deutschen. Die wohl am stärksten moralisierende Verurteilung der deutschen Geschichte stammte ja ausgerechnet von dem DDR-Bürger und querdenkerischen Intellektuellen Ernst Niekisch (1889–1967), der eine »deutsche Daseinsverfehlung« angesichts des Faschismus konstatierte. Dass gerade ein glühend deutsch empfindender Nationalrevolutionär der 1920er Jahre nun in der DDR als Antifaschist eine wahre antideutsche Geschichtsschreibung präsentierte, die sich freilich nicht in das offizielle Geschichtsbild der SED einschreiben konnte … – es wäre eine interessantere Spur gewesen als die Reproduktion jener bekannten Klischeebilder von der DDR, die leider auch Trentmann zeichnet.

Dabei liegt das Buch des am Birkbeck College lehrenden Historikers durchaus nicht voll auf Linie der Moralpolitik der westdeutschen Historikerzunft. Der Anspruch lautet, die affirmative, prowestliche Geschichtsschreibung zu konterkarieren. Im Deutschlandfunk erklärte Trentmann, er wolle mit jener »Erfolgsgeschichte, an die wir uns gewöhnt haben«, brechen. So widerspricht er auch jenen westdeutschen Historikern, die das große Narrativ von der Verwestlichung und Liberalisierung favorisieren. Trentmann ersetzt es durch eine Erzählung stets bedrohter Empathiesteigerung.

Die Friedensbewegung und Umweltgruppen werden mit Sympathie als mutige und zukunftsweisende Moralbewegungen geschildert. Die RAF muss mal wieder jenseits der Würdigung ihres antiimperialistischen und an der deutschen Verbrechensgeschichte irre gewordenen Aktivismus zusammen mit dem braunen Terror in den Bereich des Extremismus geschoben werden. Ihr Ursprungsort, die antiautoritäre Revolte von 1968, hat bei Trentmann ohnehin keine tiefergehende Bedeutung. Soll es also ein Zufall gewesen sein, dass der Kurator der bekannten Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944«, Hannes Heer, ein waschechter sozialistischer 68er war?

Das Kapitel »Krieg und Frieden« endet mit einer vergessenen Episode der frühen 1990er Jahre. Ein 31jähriger Sozialarbeiter wurde von einem Oberstleutnant der Reserve angezeigt, weil er den Aufkleber »Soldaten sind Mörder« auf seinem Pkw plaziert hatte. Ein zuständiges Gericht verurteilte den Antimilitaristen zuerst zur Zahlung von etwa vier Monatslöhnen. Der Offizier verklagte ihn zusätzlich auf Schmerzensgeld. Erst 1994 hob das Verfassungsgericht das Urteil auf, schließlich sei die ­Tucholsky-Aussage von 1931 von der Meinungsfreiheit gedeckt. Trentmann skizziert das politisch-diskursive Umfeld dieser ­Posse: Die Kohl-Regierung hatte 1993 Flugzeuge ins Kampfgebiet nach Jugoslawien entsandt. Das Verfassungsgericht urteilte am 12. Juli 1994, dass deutsche Truppen außerhalb des NATO-Bündnisgebiets rechtmäßig unterwegs ­seien – »Out of area«-Einsätze mithin »verfassungskonform«.

Von diesen Anekdoten kann man ausgehen, um zu analysieren, wohin der moralische Zeigefinger der »feministischen Außenpolitik« Baerbocks weist, um den Sinn der entgrenzten und auf Diskreditierung abstellenden »Antisemitismus«-Anklage gegen Pro-Palästina-Aktivisten zu entschlüsseln oder um die Herabsetzung von heutigen Friedensaktivisten und Antimilitaristen als »Putin-Versteher« adäquat einzuschätzen. Deutschland soll »ein beachtliches moralisches Kapital« angesammelt haben, meint der Autor. Interessant. Wofür? Vielleicht kann das ein griechisches Opfer deutscher Austeritätspolitik, die von Trentmann in aller gebotenen ­Schärfe umrissen wird, besser beantworten. Und findet dafür einen Begriff, der aus der neuesten Geschichtsschreibung, so ­kritisch sie sich auch gibt, ausgetrieben ist: imperialistische Interessen.

Frank Trentmann: Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute. Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2023, 1.036 Seiten, 48 Euro

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