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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Sachbuch

Auch eine Welterklärung

Ein neues Handbuch will erhellen, was Antisemitismus ist
Von Stefan Ripplinger
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»Joker« (2021)

In Deutschland gibt es heute mehr Antisemitismusexperten als Jüdinnen und Juden. Davon, dass deren konkrete Bedrohung von so vielen kennerischen Gojim eingedämmt worden wäre, hat man noch nichts gehört, wohl aber davon, dass sich aufgrund der von FAZ bis ZDF, von Bild bis Taz erteilten »Expertisen« ganze Gruppen der Bevölkerung – Migranten und Linke, neuerdings auch vorlaute jüdische Künstlerinnen – unter Generalverdacht gestellt sehen. In dieser bedrückenden Lage will uns das Handbuch »Was ist Antisemitismus?« ein – mit Maimonides gesprochen – »Führer der Unschlüssigen« sein. Doch stimmt schon eine Notiz auf dem Schmutztitel misstrauisch: »Das Forschungsprojekt ›Antisemitismus definieren‹ wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit Mitteln des Bundesministeriums des Innern finanziell gefördert.« Wenigstens ist der Springer-Konzern nicht beteiligt.

An der Einleitung der Herausgeberinnen und Herausgeber fällt auf, dass sich Antisemitismus und Antisemitismus­expertise verblüffend ähnlich sind. Antisemitismus habe »tendenziell ein Welterklärungspotential«, nehme »Jüdinnen und Juden für Entwicklungen und Prozesse in Haftung, die sehr allgemeiner Natur sind«. Ganz ähnlich wird von interessierter Seite einer jeden kapital- oder staatskritischen Haltung ein antisemitisches Motiv unterstellt. Hie die finsteren Aufrührer, da die anständigen Bürger – auch das ist eine Welterklärung.

Aufklärung unterschlagen

Ein Beispiel für diese Ordnungspropaganda bietet Katharina von Kellenbachs Beitrag zum »Antijudaismus«. Unhistorisch und unsoziologisch führt die protestantische Theologin die christliche Juden­feindschaft auf ein »Verlangen nach einer Heilsgewissheit« zurück. »Diese Heilsvorstellungen wurden in der Neuzeit säkularisiert und in ganz unterschiedliche politische Ideologien eingeschrieben, vom Nationalismus zum Kommunismus, vom Feminismus zum Postkolonialismus. Damit wird Antisemitismus zum religiösen Herzen einer Neuzeit, die das Heil nicht mehr in der Transzendenz sucht, wohl aber das Unheil in der jüdischen Gegenwart findet.«

Da fragt sich, wessen Herz von Heil und Unheil ungerührt bleibt. – Vielleicht das kühle des rechnenden Bürgers? Wie stets in solchen tendenziösen Darstellungen findet der Antijudaismus der bürgerlichen Aufklärung keine Erwähnung. Was ihn betrifft, hat Léon Poliakov in seiner vielbändigen »Histoire de l’antisémitisme« (Geschichte des Antisemitismus, 1977–1988) Material genug zusammengetragen. Allein, dieses Grundlagenwerk ist, wie aus dem Literaturverzeichnis ersichtlich, unseren Expertinnen und Experten gar nicht bekannt.

Zur Theologisierung des Problems passt, dass der Historiker Michael Wildt den Nazismus zu einem »Erlösungsantisemitismus« stilisiert. Waren die Nazis bloß religiös? Bestanden keine materiellen Interessen an der Arisierung? Sollte Judenhass nicht Despotie und Krieg legitimieren? Wurde mit diesem Antisemitismus nicht auch der Bolschewismus dämonisiert? – Fehlanzeige. Materialisten sind hier nicht am Werk.

Und schon sind wir beim »sekundären Antisemitismus« angelangt, also demjenigen nach dem Holocaust. Dieser ­Antisemitismus möchte, so der Soziologe Klaus Holz, den Holocaust bagatellisieren und äußere sich meist in dunklen Anspielungen. Gut für die Expertise: Die Anspielungen müssen erst entschlüsselt werden, das schafft Lehrstühle und Antisemitismusbeauftragte.

Im Rest des Werkes wird, bei erstaunlicher Vernachlässigung der extremen Rechten, die sich über diesen Band nur freuen kann, vorwiegend untersucht, ob die Linken und die Muslime nicht die neuen »Träger*innen« des Antisemitismus seien. Nicht alle Autorinnen und Autoren verfahren so demagogisch wie die Theologin, manche stellen es zur Debatte, ob sich unter Muslimen oder Linken nicht genauso viele Antisemiten befinden wie überall sonst. Und doch hat man sich auf den »neuen Antisemitismus« eingeschossen. Etwa kommt der »Große Austausch«, die von Neonazis gepflegte Lehre, nach welcher Juden die Alteingesessenen durch Migranten ersetzen wollten, nicht einmal mehr beiläufig vor.

Paranoide Projektion

An die Stelle der Anklage tritt zumeist Einschüchterung. Im Kapitel »Israelbezogener Antisemitismus« schreibt der hauptberufliche Antisemitismusexperte Thomas Haury: »Nicht jeder Antizionismus, sei es als Selbst- oder Fremdbezeichnung, ist antisemitisch.« Doch wo die Grenze zu ziehen sei, lässt er offen. Er gibt keine Beispiele, er nennt keine Kriterien. So ist fortan jeder Laie gehalten, den Experten als Orakel zu befragen: »O sage mir, bin ich antisemitisch?« Haury und Holz behaupten, dass alle Varianten des »Antisemitismus gegen Israel« dieselben »Grundmuster aufweisen, die schon den klassischen Antisemitismus konstituieren«. Von Akteuren und Verhältnissen, von Mächten und ­Zwängen sehen die beiden prinzipiell ab. Ein hypostasierter Antisemitismus schlüpft in immer neue Gewänder, ist überall und überzeitlich – das erinnert fatal an die Projektion des paranoiden Antisemiten vom Judentum als einer unsichtbar wirksamen, wandelbaren Macht. Hoffentlich wirkt die Beschäftigung mit dem Thema nicht ansteckend.

Einigermaßen überraschend ist da, wie fair das von dem Kulturhistoriker Hans-Joachim Hahn verfasste Kapitel zu Judith Butler (»Kritik instrumenteller Antisemitismusvorwürfe«) ausfällt. Zwar tadelt er zu Recht ihre Verharmlosung von Hamas und Hisbollah, aber ihre Analyse, es sei antisemitisch, den Staat Israel, ob im Guten oder im Schlechten, mit Jüdinnen und Juden gleichzusetzen, wird sachlich wiedergegeben. Das gilt auch für ihren hochaktuellen Hinweis, dass sich die, so Hahn, »repressive Verwendung des Vorwurfs« gerade in Deutschland immer wieder gegen Juden richtet.

Allerdings wurde das Handbuch im wesentlichen vor dem 7. Oktober 2023 fertiggestellt. In einem Nachtrag zur Einleitung heißt es drohend, man werde sich angesichts der bestialischen Tat der Hamas künftig eines anderen »Zungenschlags« befleißigen. Dieser Drohung könnte man entnehmen, dass Gegenstimmen wie ­Butler nicht mehr zu hören sein sollen. Das wird nicht nur dem Bundesministerium des Innern, das wird auch dem des Auswärtigen gefallen.

Peter Ullrich/Sina Arnold u. a. (Hg.): Was ist Anti­semitismus? Begriffe und Definitionen von Judenfeindschaft. Wallstein-Verlag, Göttingen 2024, 315 Seiten, 24 Euro

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