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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Essayistik

Recht gegen Recht

Mahnungen eines Linkszionisten: Jean Amérys Texte für die Neue Linke sind 50 Jahre später aktueller denn je. Ihn hätte es gegrämt
Von Stefan Gärtner
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»Cornelius und Zira – Planet der Affen« (2021)

»Was den jüdischen Staat betrifft, so ist seine Existenz ein Faktum, das gefalle oder nicht. (…) Die Delegation der UdSSR kann sich nicht enthalten, ihr Erstaunen über die Einstellung der arabischen Staaten in der palästinensischen Frage auszudrücken. Ganz besonders sind wir überrascht zu sehen, dass diese Staaten oder zumindest einige von ihnen sich entschlossen haben, militärische Maßnahmen zu ergreifen mit dem Ziele, die nationale Befreiungsbewegung der Juden zu vernichten. Wir können die vitalen Interessen der Völker des Nahen Ostens nicht identifizieren mit den Erklärungen gewisser arabischer Politiker und arabischer ­Regierungen, deren Zeugen wir jetzt sind.«

Der sowjetische Vertreter bei den ­Vereinten Nationen, Andrej Gromyko, vor der UN, 1948

Frage: Was ist der Unterschied zwischen der alten Linken und der neuen Linken? Antwort: Die alte Linke ist für Russland, die neue Linke ist gegen Israel.

Es ist ein Trost und niederschmetternd zugleich, dass es mindestens einer immer schon gewusst hat. Jean Améry, 1912 in Wien geboren, nach dem Anschluss geflohen, beim Flugblattverteilen verhaftet, gefoltert, nach Auschwitz verbracht, 1978 in Belgien freiwillig (und nach dem Buch »Hand an sich legen«) aus dem Leben geschieden, ein Sozialist aus jüdischem Elternhaus, hatte zu Israel keine herzliche, aber eine »existentielle Bindung«, so wie jeder Jude, welcher potentiell auf diesen »Schutzbunker« angewiesen sei. Mit der nüchternen Leidenschaft, die sich aus dieser Erkenntnis ergibt, verteidigt Améry, der sein essentielles »Judesein« einem ihm fremden »Judentum« gegenüberstellt, den Staat Israel, dessen Gründung mit nicht mehr und nicht weniger Unrecht einhergegangen sei als die Gründung irgendeines anderen; die Vertreibung der Palästinenser – die arabische »Nakba« (Katastrophe) – ist auch eine Folge der Kriege, »an denen ihre arabischen Stammesgenossen so ganz unschuldig doch wohl nicht sind«. Was Israel und Palästina angehe, stehe Recht gegen Recht; sei das einmal, hüben wie drüben, akzeptiert, sei der Rest doch bloß ein technisches Problem und mit »Intelligenz und gutem Willen« zu meistern.

So relativ einfach ist das, eigentlich. Die Linke aber, lesen wir im bei Cotta keinen Tag zu früh frisch aufgelegten Band »Der neue Antisemitismus«, der sieben von 1969 bis 1978 verfasste Aufsätze und Reden enthält, »schaut wie gebannt auf die tapferen palästinensischen Partisanen«, und »der gefährliche Boden, auf dem die Junglinke sich in ihrem antizionistischen Furor bewegt, enthält die Keime eines jahrhundertealten, noch keineswegs ›bewältigten‹ Antisemitismus. Jedes ›Nieder mit der zionistischen Oppression‹ findet irgendwo sein Echo, das dann wie ›Juda verrecke‹ klingt.« Es vergehen 50 Jahre, und wir stellen fest, sie sind gar nicht vergangen: »Es muss und wird denn der linke Antizionismus in den allgemeinen, übrigens auch nicht ganz ohne linke Verknüpfungsstellen im Raume schwebenden Antisemitismus eingehen, sofern nicht in letzter Minute die Neue Linke sich besinnt, ihrer Guerillametaphysik entrinnt und endlich einmal tut, was zu tun sie ständig und bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit behauptet, nämlich: eine gegebene Situation geistig ›reflektiert‹.«

Nichts, wir wissen es, liegt der neuesten Linken heute ferner, die es nach wie vor lieber mit Schablonen hält, bevorzugt mit der antizionistischen, die schon damals als »antikoloniale« in der Schublade liegt. »Der jüdische Kolonialismus war kein erobernder, er ist etymologisch und zugleich politisch abzuleiten vom lateinischen colonus, Bauer«, stellt Améry klar und zitiert den französischen Philosophen Robert Misrahi, der den Antizionismus für ein »von Grund auf reaktionäres Phänomen« hielt, »das von den revolutionären progressistischen antikolonialistischen Phrasen über Israel verschleiert wird«. Im Zeugenstand ist auch der sozialistische Literaturwissenschaftler Hans Mayer: »Wer den Zionismus angreift, aber beileibe nichts gegen die Juden sagen möchte, macht sich oder anderen etwas vor. Der Staat Israel ist ein Judenstaat. Wer ihn zerstören möchte, erklärtermaßen oder durch eine Politik, die nichts anderes bewirken kann als solche Vernichtung, betreibt den Judenhass von einst und von jeher.«

Und wiederum ist es eigentlich ganz einfach, und wenn die Schulen sich scheuen, den allzu komplizierten Konflikt im Unterricht zu behandeln, werden sie ­etwas Besseres als dieses Buch nicht finden, eben weil es von der gegebenen Situation ausgeht, die danach verlangt, dass Israelis und Araber, Juden und Muslime als Nachbarn und in Frieden leben. Auch damals regierten in Israel Leute, mit denen man nicht einverstanden sein musste (und ­Améry war es nicht), und doch war die gegebene Situation die, dass es für die Palästinenser um die staatliche, für die jüdischen Israelis um die physische Existenz ging. Dass der gegenwärtige Krieg, der bereits Zehntausenden im Gazastreifen das Leben gekostet hat, einer zur Verteidigung ist, wird sich mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit und das innenpolitische Kalkül von Israels Rechtsregierung bezweifeln lassen; unbestritten ist, dass ihn die Hamas um der unversöhnlich ­nationalen ­Sache willen provoziert hat. Noch die Idee vom ­binationalen Staat, wie sie linker Aktivismus seit einem Halbjahrhundert proklamiert, beruht nicht auf der gegebenen, sondern auf einer gewünschten, von islamischer Judenfeindschaft unberührten Situation, und auch das hat Améry gewusst, der eine »Katastrophe« kommen sah, machte man »Israel zum Teilgebiet einer palästinensischen Föderation«. Der Band ist schmal, und also ist es eine vertretbare Gewaltphantasie, ihn »unreflektierter« (Améry) Solidarität einmal um die Ohren zu hauen: »Es geht unter allen Umständen darum, den Staat Israel zu erhalten, so lange, bis Frieden, wirtschaftlicher und technischer Vorausgang die Araber in einen allgemeinen Gemütszustand versetzen, der ihnen die Anerkennung Israels innerhalb gesicherter Grenzen gestattet.« Denn auch davon wird ja links nicht gern geredet, wo man Netanjahu zwar für einen Faschisten hält, das theokratisch-eliminatorische Programm der Hamas aber so ignoriert (oder gutheißt) wie die Verbissenheit, mit der viele Palästinenser glauben, sie müssten in ein Dorf zurückkehren, das sie nie gesehen haben.

From the river to the sea? »Wer die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, dass er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt, oder er steuert bewusst auf dieses Über-Auschwitz hin.« Bei »Der neue Antisemitismus« handelt es sich um eines der seltenen Bücher, die man eigentlich Satz für Satz zitieren müsste, um ihnen gerecht zu werden: Jeder von ihnen eine Wahrheit, gegen die sich allenfalls vorbringen ließe, dass sie von der selbstverständlichen Sorte ist, was freilich eine eigene Wahrheit birgt. »Der Staat Israel besteht (…); man kann die Menschen, die heute diesen Staat bewohnen, nicht Gegnern ausliefern, die zweifellos ganz kurzen Prozess mit ihnen machen würden.« Améry beschönigt die Lage in den besetzten Gebieten nicht, erlaubt sich aber die Frage, »ob Israel in der Situation, in der es sich nun einmal befand, anderes hätte tun können als angreifen und Landstriche besetzen. Darum freilich kümmert sich die Neue Linke nicht. Ein für allemal haben sich für sie in erschreckender Vereinfachung die Fronten gebildet: hie der israelische Unterdrücker, da der arabische Freiheitskämpfer!« Die einfache Wahrheit aber ist, dass es so einfach nie war, und wär’s nicht so eine dumme Feuilletonphrase, man müsste sagen: das wichtigste Buch der Saison. Leider.

Jean Améry: Der neue Antisemitismus. Mit einem Vorwort von Irene Heidelberger-Leonard. Cotta-Verlag, Stuttgart 2024, 128 Seiten, 18 Euro

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