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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Lexika

Die Stunde der Waren

Mit langem Atem: Nach sechs Jahren ist wieder ein Band des »Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus« erschienen
Von Arnold Schölzel
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»Welcome to Jura-SS-ic« (2023)

Das »Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus« (HKWM), schreibt dessen Mitherausgeber und Inspirator Wolfgang Fritz Haug im Vorwort des im Februar erschienenen Bandes 9/Teil II, sei zu einem Jubiläum in den Druck gegangen: »Vor vierzig Jahren, im hundertsten Todesjahr von Karl Marx, nahm die Wörterbuchwerkstatt am Institut für Philosophie der westberliner Freien Universität die Arbeit auf.« Ziel war die Erarbeitung einer deutschen Fassung plus »Ergänzungsbänden« des »Dictionnaire critique du marxisme«, das Georges Labica 1982 in Paris herausgegeben hatte. Dabei sollten »Vertreter aller lebenden Generationen und Richtungen im deutschsprachigen Marxismus zu Wort kommen«.

Das war zu Reagan-Zeiten, der Kalte Krieg drohte wieder einmal in einen atomaren umzuschlagen, miteinander reden war ähnlich unerwünscht wie in der Gegenwart. Die Reaktionen, so Haug, »der beiden theoretischen Hauptfronten der institutionell verankerten Denkschulen im Anschluss an Marx, der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule sowie des Marxismus-Leninismus der DKP und der DDR« hätten einen Vorgeschmack gegeben. Den »Autoritäten beider Seiten« sei der »Argument-Marxismus« suspekt gewesen, beide hätten abgesagt, »weil die jeweils andere beteiligt werden sollte«.

Sechs Jahre später fand die globale »Systemkonkurrenz« ein Ende. Haug zitiert aus einem Brief Volker Brauns vom Dezember 2023 an ihn: »Die Wende war nicht die Stunde der Wahrheit, sondern der Waren, und die Perestroika, der Versuch, die Hierarchie in die Horizontale zu kippen, legte sich flach vor der neoliberalen Verheißung. Der plurale Marxismus, der paradoxe Begriff gegen die Orthodoxie, sah sich aufgehoben und zunichte gemacht vom einzigen global play, aber das Kapital selbst bestand auf Praxis, indem es die Grundrisse ins Transnationale verschob. Vom Neuen Denken blieb die Logik des Bruchs, ein Weltdenken der Widersprüche in den Rissen der Geografie der Kulturen.« Ergänzungsbände hätten, so Haug, in dieser Gemengelage keinen Sinn mehr gehabt. Ein »welthistorischer Geschichtsbruch« sei erfolgt, auf den das Wörterbuchprojekt mit einer Neugründung zu antworten hatte.

Diese Skizze des Selbstverständnisses sei hier hervorgehoben. Das HKWM ist nicht nur wegen des langen Atems eine verlegerische Großtat, es geht um 15 ­Bände und etwa 1.500 Begriffe. Es ist – bei allen Kontroversen um einzelne Begriffe – eine der seltenen Stimmen, die im Westen für Vernunft und linke Geduld in sich überstürzenden Geschichtsverläufen plädieren. Von den hiesigen akademischen Zünften wird das HKWM daher in der Regel ignoriert und als Abwicklungsgegenstand behandelt. Das hat bisher mehr als 800 Wissenschaftler höchst unterschiedlicher Handschrift aus aller Welt, darunter nicht wenige aus der DDR, nicht daran gehindert, häufig eher bewogen, Beiträge zu liefern. Entstanden ist so ein Nachschlagewerk (Haug rät, es als »Vorschlagwerk« zu nutzen) – angelehnt an das großartige, von 1971 bis 2007 erschienene »Historische Wörterbuch der Philosophie« der Philosophiehistoriker um den Münsteraner Joachim Ritter –, das auf lange Dauer angelegt ist. Kein Wunder, dass an der Beijing-Universität bereits die ersten drei Bände ins Chinesische übersetzt wurden und Band vier in Arbeit ist. Auswahlausgaben in Spanisch, Türkisch und Englisch liegen vor oder wurden begonnen.

Das besagt, dass sich die Weltverhältnisse seit 1989 erneut fundamental zu verändern beginnen. Haug nennt als »Indikator für die Vergänglichkeit« der damals entstandenen unipolaren Ordnung »die Rolle Chinas darin«. Es habe sich als »Fabrik der Welt« aus »der Knechtsposition zu einer zur Ebenbürtigkeit mit den USA aufstrebenden Meistermacht nachholender und in Ansätzen – etwa bei regenerativer Energiegewinnung – überholender Entwicklung« heraufgearbeitet. Der »globale Hege­monismus des US-geführten Westens« stoße in ihr an eine Grenze, viele Mächte des globalen Südens richteten sich daran auf. Einmal mehr, so Haug, verschöben sich so auch »Standpunkte und Perspektiven« des HKWM in bezug auf seinen Zweck, der »emanzipatorischen Bearbeitung grundlegender Menschheitsprobleme, die zuerst – und auf die sich bildende Weltarbeiterbewegung bezogen – von Karl Marx auf den praktisch-theoretischen Begriff gebracht worden sind«. Diese Existenzprobleme seien nicht gelöst oder bedeutungslos geworden.

Hier ist nicht Platz, die Stichwortartikel dieses Bandes von »Mitleid« bis »Nazismus« vor diesem Hintergrund im ­einzelnen zu besprechen. Herausgegriffen seien der erste und der letzte Artikel. Der Philosoph Hans-Ernst Schiller vermittelt in den ersten Sätzen seines Textes zum Lemma »Mitleid« (wie viele Stichwörter des Bandes wurde auch dieses doppelt bedacht) eine wichtige Erkenntnis: »Ernst Bloch setzt sich in seinen in den 1950er Jahren gehaltenen ›Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie‹ für eine differenzierte Betrachtung Friedrich Nietzsches ein und hebt dessen theoretische Verdienste hervor. Aber er verschweigt auch nicht, dass Nietzsche es dem Faschismus leicht gemacht hat, nicht zuletzt durch die ›Ablehnung des Mitleids‹. Diese Ablehnung ist Ausdruck einer mächtigen sozialen Tendenz.« Schiller zitiert u. a. Erich Fromm, der »Mitleidslosigkeit« zum »bürgerlichen Sozialcharakter« zählt. Eric Hobsbawm bezeichne die Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufschwung des Kapitalismus in Europa als eine »Zeit beispielloser Hartherzigkeit«. Schiller untersucht Debatten über Mitleid seit der Antike – Marx und marxistische Autoren eingeschlossen – und weist darauf hin, dass sich zum Beispiel Brecht »erstaunlich häufig« damit befasst habe: »Dreigroschenoper«, »Der gute Mensch von Sezuan«, »Die Heilige Johanna der Schlachthöfe« usw. Abschließend geht er erneut auf die »mächtige soziale Tendenz« ein und skizziert den manipulativen Umgang mit Mitleid in den heute massiv präsenten bildgebenden Medien: »Opfer terroristischer Anschläge etwa in Russland sind im ›Westen‹, wenn überhaupt, geringerer Anteilnahme wert als die vergleichbaren Verbrechen in Frankreich oder den USA.« Mitleid sei wie jeder Affekt politisch instrumentalisierbar, das gelte für die »Leiden der erklärten Feinde der Nation« wie »beim innerstaatlichen Elend«. Während das Verständnis für die Besitzenden gefördert werde, bleibe Armut oft unterhalb der Wahrnehmungsschwelle oder werde »offener Verachtung preisgegeben«.

Der Sozialwissenschaftler und Philosoph Jan Rehmann, der »Nazismus« verantwortet, fasst ähnlich instruktiv Historisches und Systematisches zusammen. Er definiert »Nationalsozialismus« als »Selbstbezeichnung des deutschen Faschismus«. Der irreführende Eigenname sei nach 1945 »zur Signatur einer in der BRD vorherrschenden ›Vergangenheitsbewältigung‹« geworden, »die den Zusammenhang mit dem Kapitalismus, die Rolle des Großkapitals und der bürgerlichen Eliten bei der Machteinsetzung« sowie die Bedeutung der Konservativen verdrängte. Im Rahmen der »Totalitarismustheorie« behalte »Nationalsozialismus« als »Rot-Braun-Gleichsetzung« auch nach der Niederlage des sozialistischen Lagers »eine zentrale Rolle«. Der Ausdruck »Nazismus« signalisiere eine »kritische Distanz« und sei im antifaschistischen Widerstand aufgenommen worden – etwa im Schwur von Buchenwald mit dem Satz »Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung.« Über deutsche Emigranten sei der Ausdruck in die englischsprachige Welt gelangt. Zu ergänzen wäre: auch in die russischsprachige. Rehmann definiert: Der Terminus Nazismus sei geeignet, zum Begriff ausgearbeitet zu werden, um in einer vergleichenden Faschismustheorie »eine deutsche Spezifik zu begreifen, die sich vor allem durch eine besondere Vernichtungsqualität auszeichnet und als Kombination mehrerer ›Endlösungen‹ beschrieben werden kann.« Der Autor untersucht die historischen Versuche, Nationalismus und Sozialismus zu verbinden und die interne Auseinandersetzung darum in der NSDAP, Strategien gegen die Arbeiterbewegung sowie die »Ideologischen Funktionen der ›Nationalsozialismus‹-Terminologie nach 1945«. Dazu zählt Rehmann insbesondere die Möglichkeit, »den faschistischen Kampf gegen den Sozialismus unter den veränderten Bedingungen des Kalten Krieges auf ideologischer Ebene fortzuführen« – sowohl gegen die DDR wie gegen die linke Opposition in der BRD.

Differenzierungen dieser Art wirken zum Teil wie Korrekturen auch an früheren Betrachtungsweisen von Argument-Autoren. Texte wie dieser zeigen, dass sich das HKWM Veränderungen stellt.

Wolfgang Fritz Haug u. a. (Hg.): Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. Band 9, Teil II. Mitleid bis Nazismus. Argument-Verlag, Hamburg 2024, 704 Seiten, 165 Euro

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