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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Essayistik

Konstruktiver Pessimismus

Mit einem Plädoyer für die Zweistaatenlösung reagiert Moshe Zimmermann auf 7. Oktober und Gazakrieg
Von Felix Bartels
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»Jurassic Park« (2022)

Der Rezensent fühlte sich ratlos. Worüber schreiben zum Messe­herbst? Was kann da schon kommen? Der so­genannte Diskurs ist im Keller. Nun gut, wann war er das nicht? Mittlerweile aber scheint er in den Keller des Kellers geraten, zum offenkundigen Stolz seiner Teilnehmer. Vielerorts werden linke Inhalte durch nationale ersetzt, marxistischer Zugriff durch Identitätspolitik. Bei innenpolitischen Themen wird das immerhin bemerkt, bei außenpolitischen seltsamerweise kaum. Was sind Russland, die Ukraine, der »Westen«, die »kolonialen« Länder, Israel oder Palästina in den laufenden Debatten denn anderes als Objekte eines projektiven Narzissmus? Einer Identitätspolitik, die allerdings nicht aufgrund genuiner Eigenschaften zustande kommt – ich bin x, also habe ich recht –, sondern konstruiert wird: Ich fühle mit x, also habe ich recht.

Das mächtige Bedürfnis, sich einer Gruppe zuzuordnen, sich geborgen und wieder relevant zu fühlen, macht den Antrieb machtloser Linker aus. Derjenigen von ihnen, genauer, die das Gefühl objektiver Machtlosigkeit nicht anders bewältigen können denn mit der Suche nach einem großen Bruder. Den findet man im Putinismus, der »wertegeleiteten« NATO, dem zionistischen Staat oder der nationalen Selbstbehauptung Palästinas. Bizarrerweise hat das, was am 24. ­Februar 2022, und ebenso das, was am 7. Oktober 2023 in Gang gesetzt wurde, nicht zur Mäßigung der Commitmentlinken sämtlicher Färbungen geführt. Für alle involvierten Konfliktparteien gilt, dass sie rote Linien überschritten haben, die es deutlich schwerer machen, weiterhin ohne Rücksicht zu ihnen zu halten. Die deutsche Linke hat reagiert – mit mehr Fanatismus und noch weniger Rücksicht. Mit durch keinerlei Reflexion getrübten Gewissheiten.

Die Radikalität des linksliberalen Historikers Moshe Zimmermann liegt darin, sich einer solchen Radikalisierung des Denkens zu verweigern. Diese nachgerade altmodische Haltung hat er, Differenzen im Detail beiseite, gemein mit Moshe Zuckermann: Die beiden brachten 2023 den Dialogband »Denk ich an Deutschland. Ein Dialog in Israel« heraus. Man muss nicht in jeder Frage übereinstimmen, es geht um die Haltung. Zimmermann steht nicht allein, ist aber einer von wenigen, die ohne Pathos als Restvernunft innerhalb des globalen Diskurses bezeichnet werden können. Des deutschen allemal, und kaum zufällig hat der Autor seine jüngste Veröffentlichung »Niemals Frieden? ­Israel am Scheideweg« (2024) in deutscher Sprache verfasst. Die Adresse also ist klar. Als Historiker versuche er »handwerklich sauber«, möglichst »unvoreingenommen« und ohne »ideologische Scheuklappen« zu arbeiten, heißt es im Vorwort von »Niemals Frieden?«. Es sagt einiges aus über die Zeit und den Gegenstand, dass ein Autor das eigens erwähnen muss.

Da Zimmermann beiden Parteien des israelisch-palästinensischen Konflikts ein Selbstbestimmungsrecht zubilligt, muss er das Handeln beider Seiten missbilligen. Er identifiziert »zwei große ­Hindernisse«, die einer Zweistaatenlösung entgegenstehen: »einerseits die einstimmige und totale Ablehnung Israels seitens der arabischen Welt (…) und andererseits die Ganz-Israel-Ideologie auf dem rechten Flügel des Zionismus«. Letzteren nimmt er als Ausgangspunkt, weil sich daran, anders als an der Haltung der arabischen Welt, eine Entwicklung zeigen lässt. Es gibt nicht »den« Zionismus, entsprechend unterscheidet Zimmermann innerhalb der jüdischen Einwanderungsbewegung einen bürgerlichen Zionismus, einen sozialistischen Zionismus, einen religiösen Zionismus und einen religiösen Antizionismus. Der bürgerliche Zionismus spaltet sich später in einen zentristischen und einen revisionistischen (dessen Vordenker ­Wladimir Jabotinsky nicht namentlich genannt wird). Die Parteienlandlandschaft Israels ist einigermaßen kompliziert, bildet aber im wesentlichen diese fünf Fraktionen noch heute ab. Der Likud-Block steht in der Tradition des revisionistischen, rechten Zionismus und trägt maßgeblich die Verantwortung für die Etablierung der Siedlungsbewegung und das Konservieren des kolonialen Zustandes, der mit der Besetzung von Gaza und Westjordanland angebahnt war.

Konzis, aber stimmig zeichnet Zimmermann die geschichtlichen Perioden nach: Osmanisches Reich, Mandats­gebiet, Abspaltung Jordaniens 1922, Teilungsplan 1947, Gründungskrieg 1948, Sechstagekrieg 1967, Besatzung, Aufstieg des rechten Zionismus 1977, Vorantreiben von Siedlungen und Konservieren der Besetzung, erste Intifada, Rückkehr des zentristischen Zionismus 1992 und Oslo, Ermordung Rabins, Rückkehr des rechten Zionismus 1996, zweite Intifada, Abzug aus Gaza, periodische Kriege bis 2021, Terrorangriff vom 7. Oktober und Vergeltungskrieg. Im langen Lauf dieser Entwicklung gelang es der zionistischen Rechten, stärker zu werden. Die israelische Bevölkerung scheint damit bei einer Haltung angelangt, die auf der arabischen Seite des Konfliktes von Anbeginn maßgeblich war. Der Prozess lässt sich als Ausdruck wachsender Verzweiflung sehen: Wenn ein Konflikt lange genug andauert, sinkt der Glaube an seine Lösbarkeit, man resigniert und richtet sich in ihm ein. (Was vice versa auch in der Bereitschaft der Bewohner Gazas zum Ausdruck kam, sich unter die Herrschaft der Hamas zu stellen.) Auf beiden Seiten walten Regierungen gegen die Interessen ihrer Bevölkerungen, sie halten den Konflikt vorsätzlich am Laufen, haben kein Interesse an einer Zweistaatenlösung und kein Konzept für eine Friedensperiode. Weil auch Netanjahu mehr oder weniger offen der Idee eines Groß-Israels anhängt, »war ihm die Machtübernahme der ­Hamas in Gaza letztendlich willkommen«.

Zimmermanns Buch hätte auch den ­Titel »Die Zweistaatenlösung und ihre Feinde« tragen können. Darum letztlich geht es bei ihm. Neben anderen Betrachtungen, die die globale Rezeption des israelisch-palästinensischen Komplexes betreffen – die Israel-Politik der Bundesrepublik, die toxischen Thesen etlicher postkolonialer Theoretiker usw. –, möchte der Autor den Blick vor allem auf mögliche Lösungen werfen.

Auch er sieht die Zweistaatenlösung ferner denn je. Sein Argument aber, dass jede andere Lösung noch weiter weg vom Machbaren siedelt, scheint schwer zu entkräften: »Diese Alternativen sind alle entweder moralisch verwerflich oder für zu viele Menschen auf beiden Seiten inakzeptabel, gefährlich oder undurchführbar«, schreibt er am Ende seines Buchs. Das Festhalten an der Zweistaatenlösung als praktikabelste, humanste und gerechteste Lösung ist hier allerdings nicht bloß ex negativo. Zimmermann füllt die ­abstrakte Formel mit Bestimmungen an, über die sich immerhin konstruktiv nachdenken lässt. Einige blauäugige Überlegungen zur Rolle der sogenannten Weltöffentlichkeit beiseite, verweist der Autor darauf, dass es eine »Mischung von Nebeneinander und Getrenntheit« geben müsse. Die beiden Staaten sollten souverän und verteidigungsfähig sein, aber kooperativ miteinander und unter einer Art gemeinsamer Gesetzgebung. Sie sollten Nationalstaaten sein, also nicht religiös fundiert, und hete­rogen, also Minderheiten der je anderen Seite in ihren Staats­wesen bei vollen Bürgerrechten leben lassen. Für diesen Gedanken kann der Autor die ursprünglichen Ideen der zionistischen Bewegung bemühen, nicht zuletzt ihres Gründers Theodor Herzl selbst, der den Staat der Juden noch weit offener dachte. »Und fügt es sich, dass auch Andersgläubige, Andersnationale unter uns wohnen, so werden wir ihnen einen ehrenvollen Schutz und die Rechtsgleichhheit gewähren«, heißt es etwa im »Judenstaat«. Die Idee eines rein jüdischen Staats kam erst durch die zionistische Rechte in die Bewegung.

Den wichtigsten Einwand macht sich Zimmermann selbst: Auch sein Konzept sei so utopisch, dass es als beinahe realitätsfern gelten könnte. »Aber die Alternative würde lauten: Freie Fahrt für weitere 7. Oktober«. Folgerichtig bezeichnet der Autor ohne Hoffnung, der sich zum Hoffen zwingt, seine Haltung als »konstruktiven Pessimismus«.

Moshe Zimmermann: Niemals Frieden? Israel am Scheideweg. Propyläen-Verlag, Berlin 2024, 192 Seiten, 16 Euro

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