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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Kunstbuch

Blumen der Trauer

Im Jurassic Park der Erinnerungspolitik: Yury Kharchenkos Gemälde der Jahre 2018 bis 2023 in einem Band
Von Matthias Reichelt
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»Blume« (2022)

»Mein Großvater Arkadij befreit als Rotarmist Auschwitz«, ist der ­Titel eines Acryl­gemäldes von Yury Kharchenko, das als erste Werkabbildung in seiner neuen umfangreichen Monographie reproduziert ist. Der Großvater wird im Gewand des Superman gezeigt, umgeben von roten Sowjet­sternen vor den Eisen­bahngleisen, die durch das Tor von Auschwitz-Birkenau führen. Auf den folgenden Seiten sind die Gemälde »Rachel, die Mutter meines Großvaters Arkadij, ermordet von der deutschen SS bei einer Massenerschießung von Juden« sowie »Abraham, Vater meines Großvaters, ermordet durch das sowjetische ­Regime im Gulag« zu sehen – was aber nicht als totalitarismustheoretische Gleichsetzung zu verstehen ist, sondern vor dem biographischen Hintergrund des Malers, in dem sich auf tragische ­Weise viele der ­Widersprüche des vorigen Säkulums spiegeln. Alle drei ­Gemälde stammen aus dem Jahr 2023 und legen einen Grundstein für das Verständnis das bildnerische Werks von ­Kharchenko. Dessen Bildkosmos ist vor dem Hintergrund der jüdischen Erfahrung im 20. Jahrhundert mit Auschwitz im Zentrum motivisch stark von sowjetischen Sternen und Davidsternen geprägt. Kharchenko wurde 1986 in einer jüdischen Familie in Moskau geboren. Ungefähr 80 Angehörige der weitverzweigten Familie wurden von den Nazis ermordet. Kharchenko erfuhr in Russland in der Schule Antisemitismus. Seine Eltern wanderten mit ihm nach Deutschland aus, wo er 2004 bis 2008 an der Kunstakademie Düsseldorf ein Malereistudium absolvierte. Auch dort war er antisemitischen Pöbeleien und Übergriffen ausgesetzt und ging nach Berlin, wo er 2010 bis 2011 Jewish Studies an einer Bildungseinrichtung der Ronald S. Lauder Foundation belegte und anschließend zwei Jahre an der Universität Potsdam in Philosophie über den Einfluss von Jacques Derrida auf die Kunstphilosophie promovierte.

Kharchenko, der auch eine Reihe von Porträts bekannter jüdischer Persönlichkeiten wie Anne Frank, Theodor W. ­Adorno, Fritz Bauer und Hannah ­Arendt gemalt hat, kombiniert in einer drastischen ideologiekritischen Serie, die auf Auschwitz wie Birkenau verweist, das Motiv des Tors und der ­Bahngleise mit popkulturellen Figuren wie Super­man, Spiderman, Goofy, Dagobert Duck und den Dinosauriern aus Jurassic Park. Auf dem Cover der Monographie ist »Welcome to Jewish Museum« in der geschwungenen Form wie »Arbeit macht frei« über dem Auschwitz-Tor zu sehen, darunter die Silhouette eines Dinosauriers. In Texten wie auch in einem Gespräch mit jW in seinem Studio zeigt sich Kharchenko sehr schockiert über die seiner Meinung nach mangelnde Empathie seitens Teilen der Linken für die israelischen Opfer des von der Hamas organisierten Massakers am 7. Oktober 2023, während er als Jude nicht nur die vorwiegend islamistischen Täter, sondern auch die faschistischen Teile der rechten Netanjahu-Regierung verurteilt, die am Ende eine Gefahr für Israel und Juden der Diaspora darstellen könnten. Er berichtet von verstärkt antisemitischen Anfeindungen und fragt sich, was es mit der so gerühmten deutschen Gedenkkultur und -­politik auf sich hat. Aus kritischer Distanz erlebt er das Gedenken an die Schoah in Deutschland oftmals als geprägt von philosemitischen Sprachformeln. Auf linker Seite wendet er sich gegen Auswüchse woker Politik sowie manche Tendenzen des Postkolonialismus, die die Schoah und das Existenzrecht ­Israels relativieren.

In einer letzten, vom Ukraine-Krieg inspirierten Serie malt Kharchenko immer wieder unterschiedliche Blumen, dominiert von düsteren Farben. Es ist kein Rückzug ins Private. Es ist eine Trauerarbeit angesichts einer welt­politischen Lage, die einen verzweifeln lässt.

Yury Kharchenko (Hg.): ­Painting 2018–2023. Mit Beiträgen von Micha Brumlik u. a. Deutsch/Englisch. Hirmer-Verlag, München 2023, 304 ­Seiten, 220 Abbildungen in Farbe, 49,90 Euro

Alle Bilder dieser Beilage sind dem hier besprochenen Band entnommen. Wir danken dem Künstler für die freundliche Genehmigung.

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