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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Poptheorie

Genre und Gesellschaft

Dietmar Daths Monographien über Miley Cyrus und Stephen King
Von Michael Sommer
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»Kamille« (2022)

Es ist nicht bekannt, ob Stephen King beim Schreiben seiner Horrorromane auch Miley ­Cyrus hört. Laut eigener Auskunft in »On Writing. A Memoir of the Craft« (deutsch 2000 als »Das Leben und das Schreiben«) hört er da vornehmlich AC/DC, Guns N’ Roses oder Metallica. Dabei gibt es über Genregrenzen hinweg Analogien zwischen beiden Künstlern zu entdecken. Science-Fiction-Autor und FAZ-Feuilletonist Dietmar Dath, der sowohl über Cyrus als auch über King Monographien für die Reclam-Reihe »100 Seiten« verfasst hat, zitiert eingangs seines Buchs über die Sängerin einen befreundeten Tenor, der über ihren Gesang sagt: »Diese Stimme driftet dauernd Richtung Moll. Da ist so eine Strömung drin, die in den Schatten will. Aber das macht den Stimmumfang nicht schmaler.« Ähnliches ließe sich wohl auch über den Romanautor King sagen. Mit umgekehrten Vorzeichen: Kings Stimmen kommen aus dem Schatten (auch aus denen auf der eigenen Seele) und wollen ans Licht. Und das mit dem Stimmumfang ließe sich auch auf Kings umfangreiches Werk beziehen.

Und da wären dann auch noch Dinge wie Herkunft, sozialer Status, Kultur­industrie und bürgerliche Rezeption. Beide, Cyrus und King, haben aus ihrer Herkunft und ihrem Status heraus einiges getan, um diese zu unterlaufen. Aber der Reihe nach und Ladies first.

Selbstgekaufte Blumen

Dath hat seinen Miley-Cyrus-Band in drei Teile geteilt. Befasst sich zuerst mit ­Cyrus’ Stimme, dem »Drawl«: »Manchmal knetet MC etwas, das sie sagen will, mit Zunge und Zähnen so knatschig durch, als litte sie an Mumps oder hätte einen Mops im Mund.« Nimmt sich in Teil zwei, »Memoiren einer Tochter aus gutem Hause«, ihre Herkunft aus dem weißen US-amerikanischen Süden vor und beschreibt (spätestens) in Teil drei, »Die Entflohene«, wie Miley Cyrus wurde, was sie ist. (Mehr Proust ist allerdings nicht drin.) Insgesamt macht Dath hier, was er häufiger und gern tut: Bedeutung dort zu suchen, wo andere eher die Nase rümpfen – von wegen E- und U-Kultur!

Lebensdaten und Werk sind ihm dabei Anlass für zahlreiche Ausflüge in (pop-)kulturelle Theorie im allgemeinen. Die Begrenzung auf jeweils 100 Seiten kommt dem Lesevergnügen eher zugute. Man ahnt freilich: Da wäre mehr drin gewesen.

Wenn es dem Autor in Teil drei seines Cyrus-Bändchens um die »Entflohene« geht, muss er vorher die verschiedenen Gefängnisse beschreiben, in denen sich MC (wie er Miley Cyrus der Einfachheit halber nennt) vorher befunden hat. Herkunft und Genre: Miley, geboren am 23. November 1992 in Franklin, Tennessee, ist die Tochter des Countrystars Billy Ray Cyrus, der mit »Achy Breaky Heart« einen dieser Megahits hatte, die für Star und Publikum gleichfalls zu Fluch und Segen werden. Da war also vom musikalischen Umfeld einiges vorgezeichnet. Dath legt dar, was Musikgattungen und deren Fans miteinander zu tun haben, und wie schwer es sein kann, diese Fesseln loszuwerden. »Die (Fangemeinde) besteht aus Leuten, die sich meist ›white‹ nennen würden, ›weiß‹; Leuten aus den Farmstaaten, aus dem Rust Belt, aus deindustrialisierten Gegenden der USA, aus heutzutage wirtschaftlich und politisch trüben, verworfenen Regionen; entlassene Cowboys, arbeitslose Arbeiterinnen.«

Wer hier Vergleiche zieht zur Situation der Black Community in den USA, ahnt, in welches Spannungsfeld sich MC begab, als sie begann, kulturelle und musikalische Codes der Black Music in ihre aus dem Country kommenden Songs einzubauen. Dath nennt diesen »Tausch von Zeichen zwischen ausgegrenzten, eingeschlossenen, abgehängten, unterdrückten, ausgebeuteten oder anderweitig abgewerteten Menschengruppen« eine »stachlige Sache«.

Die dritte Fessel hieß »Hannah Montana«, eine Disney-Serie, in der Cyrus ab 2006 die Titelrolle spielte. Cyrus, die früh den Wunsch hatte, Schauspielerin zu werden, stellt darin einen Teenie dar, der ein Teeniestar ist, aber nebenbei noch ein ­Alter ego als Schülerin »Miley Stewart« hat, das seine Identität als Teeniestar vor ihren Freundinnen geheimhalten muss. (Das ist zwar kein ganz so harter Psychokram wie in Kings Novelle »Das heimliche Fenster, der heimliche Garten«, aber hey, muss man auch erst mal kauen.) Noch heute lebt Hannah Montana als eigenständiger Act auf Spotify und ähnlichen Plattformen weiter. Dath nutzt die Gelegenheit, etwas näher auf den Disney-Komplex einzugehen, bis hin zur Klage von Floridas Gouverneur Ronald DeSantis gegen den Konzern.

Miley Cyrus ist dann noch aus ihrer Ehe mit Liam Hemsworth ausgebrochen und hat danach den wunderbaren Emanzipationssong »Flowers« veröffentlicht: »I can buy myself flowers / Write my ­name in the sand / (…) / Yeah, I can love me better than you can.«

In einem anderen literarischen ­Genre wäre dies ein Entwicklungsroman, so ist es spannungs- und assoziationsreiche Lektüre über die Werdung eines Popstars.

Sollen sie doch King lesen

Zur Einleitung seiner (bereits 2022 erschienenen) 100 Seiten über Stephen King, der mit Horrorromanen wie »­Carrie«, »Es«, »Friedhof der Kuscheltiere« oder auch der Fantasyreihe »Der dunkle Turm« zu den Bestsellerautoren gehört, hebt Dath erst mal zu einem kurzen Diskurs darüber an, was Kunst sei bzw. wann etwas als solche empfunden werde. Das ist ein geschickter Schachzug, gehen doch die Meinungen darüber, ob Kings Schriftstellerei Kunst sei, immer noch auseinander. Hegels Diktum, Kunst habe sich von »solchen Empfindungen« wie »Ekel, Angst, Schock, Entsetzen, Verzweiflung etc.« fernzuhalten, hält Dath für überholt.

So Kings Schaffen ihrer noch bedarf, ist es Dath offensichtlich um Ehrenrettung bemüht: »Die Literatur, die Bildungsbürger anerkennen, ist banalerweise eben bildungsbürgerlich (und nicht kleinbürgerlich, proletarisch, prekär, populär). Was Bildungsbürger dabei weder wissen noch hören wollen, ist, dass ihr bevorzugtes Zeug keineswegs ›über den Genres‹ steht, sondern einfach selbst ein Genre bildet.« Ha!

Was Kings Herkunft anbelangt – die die Wahl seines Genres nicht eben wenig beeinflusst hat, so Dath –, so war es eine »aus einer Region am oberen Rand der Armut. King musste einen Brotberuf finden, jobben, sich durchwursteln, bis er im Literaturleben Tritt fassen konnte«.

Gemeinsamkeiten, Analogien? Als Kings Produktivität die Regularien des Buchmarktes zu sprengen drohte, nahm er das Pseudonym Richard Bachman an und veröffentlichte parallel zu seinem unter dem eigenen Namen erscheinenden Werk Romane wie »Rage« (deutsch 1988 als »Amok«) oder »­Thinner« (deutsch 1984 als »Der Fluch«). Das Verhältnis von Bachman zu King ist dabei sicher ein anderes als das von »Hannah Montana« zu Miley Cyrus, Dath schafft es aber, anhand beider Doppelpersonæ das Wirken der Kulturindustrie nachzuweisen.

Nur folgerichtig, dass der Autor in einem Kapitel noch mal den Genrebegriff an sich einer Untersuchung unterzieht und feststellt, dass sich aus bürgerlichen Wertvorstellungen wie »Allgemein­bildung«, »Sensibilität« oder »Weltläufigkeit« (gleichzeitig Codes für eine gesellschaftlich gehobene Stellung) heraus im Literaturleben »die meisten Stoffe und Themen der gehobenen Belletristik aus Traditionsgründen an Formen des Realismus und Naturalismus« binden würden. Und weiter: Die »Aufteilung der literarischen Geographie in Gegenden namens ›Genres‹, von denen einige als ­populäre Täler und andere als einsam-elitäre ­Gipfel gedacht werden«, sei im Kern ein »Abbild von Marktaufteilungsprozessen, die stattfinden, wo auch immer Ausdrucks- und Kulturformen für materielle Realverhältnisse gesucht werden, um mit diesen Formen Profite zu erzielen.« Wenn Thomas Mann unerreichbar ist, sollen sie doch King lesen.

Das Buch endet mit der Frage, ob das, was King da schreibe, wirklich »Horror« sei – die Genrepolizei ist da teilweise anderer Meinung –; oder präziser: ob King mit seiner Darstellung des Schreckens diesen nicht nur reproduziere (aus der angenehmen Situation des Schreibstuhls heraus), sondern auch noch verstärke oder verharmlose. Beide Vorwürfe, so liest man heraus, spielen zusammen. King ist oft nicht um den größtmöglichen oder allerneuesten Grusel bemüht, sondern vielmehr um die Glaubwürdigkeit seiner Figuren. Ein zutiefst menschlicher Zug.

Dietmar Dath: Miley ­Cyrus. 100 Seiten. ­Reclam-Verlag, Ditzingen 2024, 100 Seiten, 12 Euro

Ders.: Stephen King. 100 Seiten. Reclam-Verlag, Ditzingen 2022, 100 Seiten, 10 Euro

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