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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Essayistik

Das schlechte Gewissen des Überlebenden

»Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben« – Didier Eribons großer Essay über seine Mutter
Von Frank Schäfer
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»Blume« (2022)

Noch einmal kehrt Didier ­Eribon nach Reims zurück. Seine Mutter ist gebrechlich geworden und kann sich nicht mehr allein versorgen. Sie stürzt und kommt nicht wieder allein auf die Beine. Noch dazu machen sich erste dementielle Ausfallerscheinungen bemerkbar. Die nicht besonders eng verbundene Familie, einer von Eribons Brüdern liegt sogar über Kreuz mit ihm wegen seiner Indiskretionen in »Rückkehr nach Reims«, rauft sich noch einmal zusammen und beschließt, sie in einem Pflegeheim unterzubringen. Ihre letzte Lebensstation wird eine sehr kurze. Von Heimweh, Einsamkeit und körperlichen Malaisen geplagt, von den eigenen Kindern mehr oder weniger im Stich gelassen und schließlich auch von den strukturellen Misshandlungen in der Institution Altenheim zerrüttet, stirbt sie bereits nach wenigen Wochen. Der berühmte Soziologe ist mit seiner ­Karriere, die durch den Bestsellererfolg noch einmal befeuert wird, überaus beschäftigt und besucht sie kein einziges Mal mehr. Auch zur Beerdigung geht er nicht.

Insofern ist »Eine Arbeiterin«, dieser zwischen Erzählung und soziologischer Analyse oszillierende Essay, wohl auch so etwas wie eine Abbitte, eine nachträgliche Rechtfertigung seiner Rolle als »schlechter Sohn«. Aber man muss schon »Rückkehr nach Reims« kennen, also vom Leid wissen, das der schwule Eribon während seiner Sozialisation in einer patriarchalen, maskulinistischen, unempathischen und weit nach rechts gedrifteten Arbeiterfamilie erlitten hat, um sich sein schon bemerkenswert liebloses Verhältnis zu seiner Mutter erklären zu können.

»Ich vermisste meine Mutter nicht, als sie noch lebte, warum sollte ich dann jetzt geneigt sein zu sagen, dass ich sie vermisse? Trotzdem verspürte ich noch Monate nach ihrem Tod manchmal einen seltsamen Impuls: Ich wollte sie anrufen und ihr eine Frage stellen. Eine Frage, auf die ich nie mehr eine Antwort bekommen würde, weil am anderen Ende der Leitung niemand mehr war. Im Grunde ist es simpel: In meinem Leben, in meiner Identität, in meiner Selbstdefinition hat sich etwas verändert. Ich war ein Sohn, jetzt bin ich keiner mehr. Solange meine Mutter lebte, ganz gleich, wie unregelmäßig und spärlich der Kontakt zwischen uns war, ganz gleich, wie wenig ich mich in meinem Leben dazu hatte durchringen können, Sohn zu sein (seien wir ehrlich: Ich wollte es nicht sein, ich empfand es als Belastung), war ich trotz allem ein Sohn gewesen. Und war ich es nicht in ihren letzten Lebensjahren wieder mehr geworden, dadurch, dass ich mich – ein wenig – um sie kümmerte, als sie alt und krank war? Also doch: Ich war ein Sohn; ich hatte nie aufgehört, ein Sohn zu sein. Jetzt bin ich keiner mehr.« Es ist der Verlust dieser Rolle, die ihn noch einmal darüber nachdenken lässt, wie gut er sie gespielt hat. Offenbar nicht besonders. Er zitiert Imre Kertész, der in seinen Tagebüchern »Die letzte Einkehr« den Aphorismus prägt: »Trauer ist das schlechte Gewissen des Überlebenden.«

Das Buch ist aber nicht in erster Linie eine Rechtfertigungsschrift seiner eigenen Person, sondern der Mutter. Das sind die suggestivsten Passagen in diesem Buch, in denen Eribon sie noch einmal narrativ zum Leben erweckt. Das Unglück ihrer langen Ehe mit einem herrschsüchtigen Mann, den sie schon bald nicht mehr liebt und dennoch bis zu seinem Tod nicht zu verlassen wagt, aus Angst davor, als alleinerziehende Mutter auch noch das Bisschen zu verlieren, das sie sich als Putzfrau und spätere Fabrikarbeiterin erarbeitet hat. Ihr spätes Liebesglück mit einem anderen und der Schmerz, als sie ihn mit ihrer krankhaften Eifersucht, erste Ankündigungen ihres körperlichen Zerfalls, wieder aus dem Haus treibt. Ihr aggressiver, mit dem Trotz eines Kleinkindes vorgebrachter Rassismus, der im Widerspruch steht zu ihrer eigenen migrantischen Herkunft, auf die sie mit Stolz verweist. Und schließlich ihre Verzweiflung, als sie sich ins Unabänderliche fügen und einem Umzug ins Pflegeheim zustimmen muss.

Eribon ist Wissenschaftler und glaubt daher, auf ein Referat der akademischen und belletristischen Literatur zum ­Altern und zum Sterben nicht verzichten zu können. Die Jonglage mit einschlägigen Lesefrüchten gehört zum szientistischen Spiel, und das beherrscht er ziemlich virtuos. Indem er dieses individuelle Leben einer »Arbeiterin« also mit ­Hilfe seiner Gewährsleute Simone de Beauvoir, ­Norbert Elias, Michel Foucault oder ­Pierre ­Bourdieu – bemerkenswerterweise nicht des großen Muttersöhnchens Roland ­Barthes – noch einmal auf den ­soziologischen Begriff bringt, bekommt man einen guten Überblick über die einschlägige Forschung.

Hier manifestiert sich aber auch auf der formalen Ebene die Entfremdung von der Arbeiterklasse, die er als »Klassenwechsler« beschreibt. Die allmähliche Distanzierung von der Familie, die schließlich in einem Bruch endet, den er erst nach dem Tod des Vaters halbwegs wieder kitten kann, ist eben nicht allein seiner sexuellen Präferenz geschuldet, sondern nicht zuletzt seinem Bildungsaufstieg. Eribon beschreibt noch einmal, was damit für ihn verbunden war: die Scham für die eigene Herkunft, der Assimilationsdruck, die Angst, schließlich doch noch als Prolet überführt zu werden. Aber er macht sich nun auch Gedanken darüber, wie sehr er seine Mutter möglicherweise verletzt hat mit seinem offensiv gezeigten, die eigenen Wurzeln verleugnenden bildungsbürgerlichen Habitus. Erst nach ihrem Tod kann er sich mit seiner plebejischen Vergangenheit wirklich aussöhnen, nicht zuletzt, weil ihr Verlust ihm offenbart, was er als »Klassenverräter« eben auch verloren hat.

»Durch den Tod meiner Mutter war die Verbindung zwischen meiner Vergangenheit und meiner Gegenwart, die sie zuvor, und sei es implizit, aufrechterhalten hatte, abgerissen oder zumindest brüchig geworden: Wer würde mir jetzt noch Anek­doten von dem Kind erzählen, das ich gewesen war, von dem Jugendlichen, zu dem ich damals heranwuchs? Wer würde für mich die genealogische Landkarte zeichnen, den familiären Stammbaum? Ihr ständiges Bestreben, mich an diese Kontinuität zu erinnern oder sie sogar wiederherzustellen, hatte mich immer gestört; ihr Status als Kronzeugin, ja als einzige Zeugin desjenigen, der ich gewesen war, bevor ich mich – in sozialer Hinsicht – zu verändern begann, ärgerte mich oft. Wie konnte es da sein, dass ich mich jetzt nach dieser Kontinuität zurücksehnte, dass mich ihre Abwesenheit schmerzte? Ich hatte mich lange darauf konzentriert, meine Vergangenheit zu vergessen und so wenig wie möglich an meine Familie zu denken. Doch als ich mich dann um meine Mutter kümmern musste, drängte sie sich durch die Macht familiärer Verpflichtungen – die häufig mit familiären Gefühlen gleichgesetzt werden – wieder in mein Leben. Die Archivarin und Historikerin meiner Jugend ist nicht mehr da, um mir davon zu erzählen.«

Im letzten Kapitel entwickelt sich das Buch dann zu einem gerontopolitischen Manifest. Eribon demonstriert, dass die Alten in der politischen Theorie nur eine marginale Rolle spielen. Denn in diesem Konzeptionsraum ist Mobilität, Gestaltungskraft und Handlungsfähigkeit in bezug auf eine wünschenswerte Zukunft gefordert, die ein kranker, bettlägeriger, womöglich auch kognitiv eingeschränkter Körper gar nicht mehr besitzt. Die ­Alten haben schlicht keine Kraft mehr, ein »Wir« zu bilden, also sich für ihre Interessen zu kollektivieren. Sie sind oft genug nicht Subjekt, sondern Objekt, sie können ihre Lage nicht mehr selbst schildern, sondern sind darauf angewiesen, dass andere es von außen für sie tun. Das schränkt aber auch die Wirkungsmacht solcher Interventionen ein. Sie treffen zu selten auf Resonanz, weil die Jungen sich mit solchen Belangen noch nicht befassen wollen und die Alten selbst in ihrer Vereinzelung sich nicht mehr damit befassen können. Eribon wirbt eindringlich dafür, ihnen eine lautere Stimme zu geben. Das ist nicht mal besonders altruistisch – alt werden wir früh genug.

Didier Eribon: Eine ­Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. Aus dem Französischen von Sonja Finck, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 272 Seiten, 25 Euro

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