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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Belletristik

Ein dunkel leuchtendes Nichts

Alles bleibt im Ungefähren: Jon Fosses »Heptalogie« fließt leise ihrem Ende entgegen
Von Enno Stahl
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»Tolstoi« (2020)

Der alternde Maler Asle lebt wie ein Eremit, sporadischen Kontakt pflegt er nur mit seinem Nachbarn ­Asleik. Einmal im Jahr bringt er seinem Galeristen in Bergen einige Bilder, von deren Verkauf er seine bedürfnislose Existenz fristet. Dann gibt es noch einen Hund, begonnene und fertige Gemälde, immer den Fjord im Blick, ewig strömt das Wasser … Viel langweiliger könnte sie nicht sein, die Ausgangs­situation für Jon Fosses in drei Einzelromanen erschienene Heptalogie, die in der deutschen Übersetzung ganze 1.144 Seiten umfasst. Aber was Fosse aus diesem kargen Setting macht, ist, man muss es auf englisch sagen, outstanding. Denn wahre Literatur besteht eben aus Sprache, und Fosse inszeniert seine Heptalogie als leise fließender Bewusstseinsstrom, im Grunde ist es nur ein einziger Satz, Punkte gibt es nicht, nur Kommata. Dieses meditative, fast schlafwandlerische Erzählen entfaltet einen ungemeinen Sog. Man vertraut sich der Sprache an, lässt sich von ihr leiten, und obwohl eigentlich nichts passiert ist, möchte man einfach nur weiterlesen – sich tragen lassen von diesem Sprachstrom, der dahinfließt wie das Leben selbst …

Das Ganze richtet sich aus an der ­Frage, was wäre, wenn unser Leben eine bestimmte Wendung erfahren hätte – oder eben nicht. Diese Frage exerziert Fosse in den drei Romanen auf prinzipielle und handwerklich überaus gekonnte Art durch. Der Witz an der Geschichte ist nämlich, dass es zwei Asles gibt. In der Vergangenheit, als junge Männer, sehen beide gleich aus, tragen ähnliche Kleidung, beide trinken ziemlich viel, beide werden – als hochbegabte Maler – ohne einen Schulabschluss von der Kunstakademie aufgenommen. Doch ihre Entwicklung verläuft konträr. Der eine, der spätere Ich-Erzähler, trifft auf Ales, eine streng gläubige Katholikin, er entsagt dem Alkohol und führt mit ihr ein spirituelles Leben im Geist der Kunst und der Religion. Der andere schwängert ein Mädchen, die Geschichte endet unglücklich und er verfällt dem Alkohol. Diese beiden Asles in der Erinnerung des Protagonisten sind also Möglichkeiten, zwei Versionen, wie sich Asles Leben hat entwickeln können. Verworren wird es dadurch, dass die beiden Doppelgänger tatsächlich existieren, sogar befreundet sind. Im ersten der drei Romane hat der Maler den Säufer Asle betrunken mit schweren Unterkühlungen im Schnee gefunden. Nun liegt er im Krankenhaus. Der Maler möchte ihn besuchen, darf aber nicht zu ihm.

Zumeist sitzt er statt dessen in seinem Haus im norwegischen Hinterland, sinniert über ein begonnenes Bild, bei dem er nicht recht weiß, wie er es weiterführen soll, und lässt Passagen aus seiner Vergangenheit Revue passieren. Wie er einst zum Malen kam, das Gymnasium abbrach, um gleich auf die Kunstakademie zu gehen, bis er auch diese verließ, weil er dort nichts mehr lernen konnte.

Im jüngst erschienenen Abschlussband der Heptalogie »Ein neuer Name« geht es darum, wie Asle seine große, schon seit längerem verstorbene Liebe Ales kennenlernte. Beide entschieden sich vom Fleck weg füreinander. Und Ales gab dem ortlosen Asle den Halt, den er brauchte, um ein bedeutender Künstler zu werden. Sie war buchstäblich sein Schutzengel, ahnte bereits im vornherein, welche Menschen für Asle gefährlich werden könnten und hält sie fern.

Traumhaft sicher wechselt Fosse ­dabei zwischen den Zeitebenen und Figuren hin und her, Asle eins und Asle zwei, als Running Gags tauchen immer wieder flashartig der alte Asle in der Gegenwart des jüngeren auf und umgekehrt. Auch andere Figuren existieren in verschiedenen Versionen, blitzen mal hier, mal dort auf. Alles bleibt im Ungefähren. Fosse löst das rein formal ungemein elegant, aber vermutlich funktioniert dieses Erzählen auch deswegen so gut, weil es von einem tiefempfundenen mystischen Impetus geprägt ist. Im dritten und letzten Band nennt Asles in seinen religiösen Exerzitien immer mal wieder Meister Eckhart, dessen fast schon dialektisch-pantheistische Gottesvorstellung prägt auch Asles religiöse Ideen: »denn in einem gewissen Sinne ist Gott nichts, er ist ein dunkel leuchtendes Nichts, ein Garnichts, ein Nichtsein, und zugleich ist auch in allem, was ist, er ist ein Dasein, ein Nichtdasein, das da ist, denn Gott ist in der Schöpfung zugleich zugegen und in ihr ganz und gar fern.« In einem solchen Ansatz werden auch Zeit und Identität relativ.

Im Abschlussband erfährt der Protagonist nun, dass sein Alter Ego, der andere Asle, gestorben ist. Eine weitere Person, eine Frau namens Guro, ist ebenfalls gestorben, Opfer eines ­Wohnungsbrands. Auch mit ihr hatte Asle eine eigentümliche Verbindung. Von allem scheint er nun gelöst, selbst mit dem Malen beschließt er, Schluss zu machen. Ist das nun der neue Name, den der Romantitel verheißt? Vielleicht, am Ende scheint Asle einzugehen in den kosmischen Strom, vielleicht stirbt er, vielleicht ist es nur seine Identität die zergeht, wie alles irgendwann ­schwindet.

Jon Fosse: Ein ­neuer ­Name. Heptalogie VI–VII. Aus dem ­Norwegischen von ­Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt-Verlag, Hamburg 2024, 304 Seiten, 30 Euro

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