junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Gegründet 1947 Sa. / So., 11. / 12. Mai 2024, Nr. 109
Die junge Welt wird von 2751 GenossInnen herausgegeben
junge Welt: Jetzt am Kiosk! junge Welt: Jetzt am Kiosk!
junge Welt: Jetzt am Kiosk!
Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Belletristik

»Du sollst nicht aus der Reihe tanzen!«

Bislang unveröffentlichte Erzählungen der jungen Brigitte Reimann
Von Sabine Lueken
7.jpg
»Tomaso Albinoni« (2019)

»In engen Straßen wachsen oft enge Anschauungen, und der Gesichtskreis mancher Menschen umschließt nur das eigene Fenster und das des Nachbarn (…). Das oberste Gebot lautet: ›Du sollst nicht aus der Reihe tanzen!‹« Gegen dieses Gebot schrieb Brigitte ­Reimann schon als 19jährige an, wie man aus ihren frühen, bislang unveröffentlichten Texten erfahren kann, die der Literaturwissenschaftler Carsten Gansel jetzt herausgegeben hat. Das Werk der 1933 in Burg bei Magdeburg geborenen Autorin, die schon als 14jährige »Schriftsteller« werden wollte – »als Hauptberuf«, wird derzeit international wiederentdeckt. ­Dazu passt, dass Gansel im letzten Jahr eine Biographie Reimanns vorlegte.

Die frühen Arbeiten zeigen, dass das Thema der weiblichen Selbstverwirklichung von Anfang an im Zentrum ­Reimanns Schreibens stand. Schon in der »Probe«, einer Art FDJ-Agitprop-Laien­spiel, das die 15jährige 1948 für eine Schultheateraufführung schrieb, werden erstaunlicherweise von den Protagonistinnen Geschlechterstereotype verhandelt, die überwunden werden müssen.

In »Reifeprüfung« (um 1952) wird die 16jährige Karla ungewollt schwanger. Der Hausarzt weist sie ab: soll sie das Kind doch ruhig bekommen. Allerdings wird sie, »wenn sie in dieser Stadt bleibt, ausgeliefert den Kleinbürgern und ihrer Moral«, diese »seelische Marter« nicht überstehen, da ist er sich sicher. Die Erzählung ist ein Tabubruch: Eine deutliche Kritik an der in der DDR 1950 wieder eingeführten, ausschließlich medizinischen Indikation für Schwangerschaftsabbrüche und ein Plädoyer für weibliche Selbstbestimmung. Die junge Autorin war erst kurz zuvor selber ungewollt schwanger gewesen.

In »Claudia Serva« (um 1952), einer »Erzählung aus der Zeit der Sklavenaufstände in Rom – um 80 v. u. Z.« entfesselt eine Sklavin aus Liebe einen Aufstand. Brigitte Reimann hat »Claudia Serva« selbst zu Recht als »entsetzlich schwülstig« und voller Klischees beschrieben. Die Erzählung sei aber, so Gansel in seinem Nachwort, deswegen interessant, weil Reimann darin das Thema »Führerkult« – hier am Beispiel des ­Sklavenanführers – thematisiert und den Anspruch, ja, die Notwendigkeit, formuliert, selbstständig über das eigene Leben bestimmen zu können.

Mit »Katja. Eine Liebesgeschichte aus unseren Tagen« gewann Reimann im August 1953 den zweiten Preis der Magdeburger »Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren« (AJA), deren Mitglied sie war und wo sie als Talent erkannt und gefördert wurde. Die Erzählung erschien in Fortsetzungen in der Magdeburger Volksstimme, der wichtigsten Tageszeitung der Region. Katja trennt sich von ihrem Freund, den sie liebt, weil er verlangt, dass sie nach der Heirat Theaterstudium und Berufswünsche für ihn aufgibt. Sie entscheidet sich für einen anderen, der sie nicht vor eine solche Wahl stellt: »Als Mensch, der Anspruch darauf erhebt, ein kluger und fortschrittlich denkender Mann zu sein, wird ihm deine Freiheit höher stehen als sein kleinlicher Egoismus.«

Ihre Vision einer geglückten Partnerschaft zwischen einem »einfachen Arbeiter« und einer angehenden Schriftstellerin entwarf Reimann in »Zwei schreiben eine Geschichte« (1955). Die Wirklichkeit sah anders aus: Ihre Ehe mit dem Arbeiter Günter Domnik, den sie im Oktober 1953 geheiratet hatte, scheiterte.

In »Ein Stern fällt aus der Nacht« (um 1956) verliebt sich das Mädchen Susann »im Sommer 1936« in einen Juden. Sie bekennt sich zu ihm und geht nach anfänglichem Zögern mit ihm in die Emigration, nachdem ihr von Kommilitonen als »Judenhure« das Haar abrasiert worden war: »So also wurde das Mädchen ­Susann darüber belehrt, dass es keinen Mittelweg gibt, und diese Erkenntnis schien ihr später nicht zu teuer erkauft für den Preis ihres reichen Haares.«

Literarisch am anspruchsvollsten ist »Ich werde in dieser Nacht allein sein« (1956), erzählt aus der Perspektive von Maria, einer Malerin zwischen zwei Männern. Dialoge wechseln mit inneren Monologen und Bewusstseinsströmen der Protagonistin. Brigitte Reimann hatte diesen Text nach ihren Erlebnissen bei einem Drehbuchlehrgang der Defa im Liselotte-Herrmann-Heim in Potsdam-Sacrow innerhalb nur weniger Tage und Nächte niedergeschrieben. Die Dreiecksgeschichte gefiel den Lektoren, wurde aber wegen ihres »morbid-erotischen Sujets« nicht in eine geplante Anthologie aufgenommen, wie ihr Walter Püschel, ihr Lektor im Verlag Neues Leben, knapp mitteilte.

Reimann verlegte sich in der Folge auf andere Stoffe. »In meinem blau und gelben Haus riecht es noch immer nach Farbe und streng nach Beton, aber an den Wänden im Treppenhaus gibt es schon nichtsnutzige Inschriften und die dürren Männlein, wie Kinder sie malen«, berichtet die Erzählstimme in »Bei der halben Nacht«(1961). Es folgen Skizzen aus dem Alltag der Nachbarn in diesem Haus, das sich sicherlich in Hoyerswerda ­befindet. Dorthin hatte sich Brigitte Reimann, dem staatlichen Ruf nach Aufhebung der »Trennung zwischen Kunst und Leben«, zwischen »Kulturschaffenden und Produktionsarbeitern« folgend, mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller­kollegen Siegfried Pitschmann, auf den »Bitterfelder Weg« begeben. Die männlichen Figuren scheinen in der Geschichte zu dominieren, aber es sind die Frauen, um die es eigentlich geht und die alle ziemlich unglücklich sind.

Der jüngste Text ist der schönste, eine Stimme aus dem Off für ein Filmfeuilleton des DFF, das wegen Manfred Krugs Mitwirkung als Sänger nach dessen Ausreise aus der DDR 1977 gesperrt, 1984 vernichtet und doch kürzlich wieder aufgefunden wurde: »Sonntag, den … Briefe aus einer Stadt« (1970). Die weibliche Erzählstimme spricht – unverkennbar im »Franziska Linkerhand«-Sound – den geliebten Mann (und die Zuschauer) direkt an. »Wieder ein Sonntag ohne dich, mein Liebster …« und dann fährt sie fort mit einer melancholischen, aber doch zuversichtlichen Lobpreisung ihrer neuen Heimatstadt Neubrandenburg.

Brigitte Reimann: Katja. Erzählungen über ­Frauen. Herausgegeben von Carsten Gansel, A­ufbau-Verlag, Berlin 2024, 235 Seiten, 22 Euro

Tageszeitung junge Welt am Kiosk

Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe. Alle Standorte finden Sie unter diesem Link.

Ähnliche:

Mehr aus: Feuilleton