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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Belletristik

Selbstisolation mit grünem Papagei

Auf der Suche nach Amerika: Sigrid Nunez’ listiger New-York-Roman »Die Verletzlichen«
Von Kerstin Cornils
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»Joan Baez mit schwarzer Katze« (2019)

Obwohl New York City über acht Millionen Einwohner zählt und als am dichtesten besiedelte Stadt der USA gilt, ist der notorisch quirlige Big Apple vielfach als Ort der Einsamkeit beschrieben worden. So hat Jonathan Lethem in seinem Roman »Die Festung der Einsamkeit« die Geschichte eines weißen Kindes erzählt, das sich als Außenseiter in einem von schwarzer Kultur geprägten Teil Brooklyns in die Phantasiewelt der Superheldencomics zurückzieht. Die britische Autorin Olivia Laing hat die Stadt, die niemals schläft, mit dem unbehausten Blick einer Zugereisten seziert und in ihrer meisterhaften Studie »Die einsame Stadt« Facetten urbanen Alleinseins in künstlerischen Subkulturen von Edward Hopper über Andy Warhol bis Klaus ­Nomi aufgefächert. Neu und ungewöhnlich – und doch auf unheimliche Weise uns allen vertraut – ist nun Sigrid Nunez’ Ansatz, New Yorker Einsamkeit zu vermessen. Die 1951 in NYC ­geborene Autorin stellt in ihrem Roman »Die Verletzlichen« eine ihr selbst nicht unähnliche namenlose Schriftstellerin fortgeschrittenen Alters in den Mittelpunkt, die einen »launische(n) Frühling« in ­einer sich gespenstisch entvölkernden Metropole erlebt. Als sich im Central Park plötzlich mehr Weißkopfadler als Touristen tummeln, droht die Szenerie ins Surreale zu kippen.

Doch anders als Thomas Glavinics dystopisch verzerrtes Wien in »Die Arbeit der Nacht«, aus dem ohne jegliche Erklärung alle Menschen verschwinden, bleibt Nunez’ leergefegtes New York eng der Realität verhaftet. Schon bald wird offenbar, dass gerade jener Frühling anbricht, in dem alle Welt anfing, über Wuhaner Wildtiermärkte zu sprechen und die rasant wachsende Zahl der Covid-Toten mit den sich auftürmenden Lügen des US-amerikanischen Präsidenten abzugleichen. Ins Zentrum rückt eine neue Variante der Einsamkeit, die nicht gewählt, sondern offiziell anhand von städtischen Quarantäne- und Lockdownregeln verordnet wird. Nunez sorgt dafür, dass es in der neuen Welt der Zwangseinsamkeit lustig, bunt und scharfsinnig zugeht.

Die vielen Freundinnen der Heldin, ein prachtvoller Strauß aus Blumennamen wie Rose, Lily, Violet und Iris, ziehen in ihre Zweitwohnsitze um und sind fortan nur noch telefonisch oder bei Zoom-Cocktail-Stunden zu erreichen. Doch die schwangere Iris, die der Lockdown gegen ihren Willen in Kalifornien festhält, macht der Schriftstellerin ein Angebot, von dem in winzigen Wohnungen eingepferchte Familien nur träumen können: Sie bittet ihre Freundin, bis auf weiteres in ihre Designerwohnung zu ziehen und dort auf ihren kapriziösen Papagei Eureka aufzupassen. Iris’ Küche wird von Gerätschaften für je 20.000 Dollar geziert, während ihr grasgrüner Ara in einem Zimmer mit handgemalter Paradies­tapete, Mini­einkaufswagen und eigenem Fernseher residiert. Angesichts der Berichte über vulnerable Menschen von Hongkong bis Rio, die sich eine oft lebensrettende Isolierung nicht leisten können, ist von Anfang an klar, dass sich die Autorin in einem derart luxuriösen Ambiente auf ein moralisches Minenfeld begibt. Doch im Grunde ist sie froh, sich auf so komfortable Weise einen Schreibanlass verschaffen zu können: Während Gabriel García Márquez eine Krebsdiagnose als ­Glückstreffer bezeichnete, weil sie ihn zum Schreiben einer Autobiographie motivierte, wird von der tierlieben Heldin nicht mehr verlangt, als in eine entvölkerte Luxusimmobilie umzuziehen und dort einen verwöhnten Papagei zu betreuen.

So schön könnte die Selbstisolation mit Eureka sein! Doch schon bald steht ohne Ankündigung ein Störenfried im Appartement, ein »umwerfende(r), langhaarige(r), muskelbepackte(r) Junge« im schmuddeligen T-Shirt. Die Autorin ahnt sofort, dass es sich um den am College gescheiterten Sohn einer mäßig erfolgreichen Lyrikerin handelt, dem neben Essstörungen und ADHS auch Wutanfälle und ein Aufenthalt in der Psychiatrie nachgesagt werden. Sie wittert in dem attraktiven Vertreter der Generation Z einen Troublemaker und Mansplainer. Nicht einmal den Rückzug kann sie antreten, da in ihrer eigenen Wohnung mittlerweile eine Ärztin aus Oregon wohnt, die sich ehrenamtlich um Covid-Kranke kümmert. Zu allem Überfluss stellt sich heraus, dass Giersch – der junge Mann heißt nicht so, doch die Autorin verpasst ihm maliziös den Namen eines Unkrauts – ihr die Aufmerksamkeit des Papageis streitig macht. Als es wärmer wird, schläft Giersch auf dem Dach … und provoziert mit seiner hippieartigen Unbefangenheit den Neid der Älteren, die gerade damit hadert, dass man heutzutage kaum noch eine Liebesgeschichte schreiben kann.

Apropos Liebesgeschichte. Wer angesichts der geballten Antipathie in dieser Zwangs-WG den Umschlag in eine Liebe oder wenigstens in eine Freundschaft erwartet, dem schlägt Nunez ein Schnippchen. Ihr Plot bleibt ein Gerippe, an dem Versatzstücke einer Erzählung wie Kleider einer Vogelscheuche flattern. Und das ist auch gut so, denn Nunez braucht Platz für ihr witziges und kluges Arrangement der Sentenzen von Tolstoi bis Sylvia Plath. Statt auf Action und narrative Entwicklung zu setzen, analysiert sie lieber die Fallstricke eines berühmten Essays von Joan Didion, die dafür gerühmt wird, aus privaten Erlebnissen in den 60er Jahren nicht nur die inneren Widersprüche der Hippiekultur, sondern auch die Lage der US-amerikanischen Nation herausdestilliert zu haben. Ob es Didions »Journalisten-Gold«, das fünfjährige Mädchen Susan im Acid-Rausch, je gegeben hat? Vielleicht, so vermutet die Heldin, hätten die Hippies aus Haight-Ashbury die wesentlich ältere Didion mit ihrer schockierenden Drogengeschichte damals einfach an der Nase herumgeführt.

Was implizit die Frage aufwirft, ob nicht auch Giersch seine viel ­ältere Zwangsmitbewohnerin an der Nase herumführt. Oder, anders noch, führt womöglich die Erzählerin ihre Leser in die Irre, wenn sie dem tofuessenden Giersch fast karikaturhaft einen Haufen vermeintlich »woker« Klischees zuschreibt? Verzichtet er wirklich auf einen Job, um nicht »seine ­privilegierte, weiße, cis-hetero-männliche Identität zu zementieren«? Nunez ist viel zu listig, um diese Fragen zu beantworten. Doch über eines kann ihre Verschmitztheit nicht hinwegtäuschen. Bei aller Heiterkeit wirft ihr verspielter Essay­roman im Stil von Virginia Woolf doch auch einen tiefen Blick in die Abgründe der US-amerikanischen Gegenwart. Als Giersch berichtet, wie sehr ihm das ungebundene Lebensgefühl in Jack ­Kerouacs Roman »Unterwegs« gefällt, stellen er und die Heldin fest, dass das Trampen heutzutage fast unmöglich geworden sei. Jeder, der kein Auto und kein Geld habe, sei mittlerweile verdächtig. Kalifornien, einst das ­gelobte Land für die 68er-Generation, habe sich in Zeiten des Klimawandels in eine permanent von Waldbränden bedrohte Hölle verwandelt. Ob es noch Hoffnung gibt, fragt sich die Heldin. Ihr fällt ­dazu eine Antwort aus berufenem Mund ein: »Der Menschheit bleiben ungefähr nur noch hundert Jahre auf der Erde. Stephen Hawking sagte es 2017.« Eine Welt zum Verzweifeln also? Das sehen Giersch und die Heldin anders, wenn sie Kopf an Kopf nebeneinanderliegen, redend und Cannabis rauchend, auf der Suche nach Amerika.

Sigrid Nunez: Die Verletzlichen. Aus dem amerikanischen Englisch von Anette Grube, Aufbau-Verlag, Berlin 2024, 224 Seiten, 22 Euro

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