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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Literatur

Ritt auf dem Bioroboter

Das böse Ende des Traums vom besseren Menschen: Wladimir Sorokins Roman »Doktor Garin«
Von Peter Köhler
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»Wolfgang Amadeus ­Mozart« (2019)

Dass die Leute vernünftig und die Gesellschaftsordnung, in der sie leben, gerecht sei, dass die Geschichte der Menschheit rational verlaufe und auf einen Zustand des größtmöglichen Glücks für alle zusteuere – dieser jahrtausendealte Traum von der Wiederkehr des irdischen Paradieses oder, so die klassisch-antike Vorstellung, eines goldenen Zeitalters, der zuletzt im 20. Jahrhundert real werden sollte, ist für lange Zeit ausgeträumt.

Die Sowjetunion, der große Gegenentwurf zur kapitalistischen Welt, ist gescheitert. Wer die Gründe erforschen will, kann Ökonomen verschiedener Couleur befragen und wird zum Beispiel die Antwort erhalten, dass das sowjetische Wirtschaftssystem die Bedürfnisse der Bevölkerung nicht mehr befriedigen konnte. Der 1985 erstveröffentlichte und 1990 ins Deutsche übersetzte Roman »Die Schlange« des 1955 geborenen Romanciers Wladimir Sorokin schildert ebendas: Ausschließlich in Dialogen fängt er das schier end-, nein: am Ende sinnlose Warten der Kunden vor einem Geschäft ein.

Dass angesichts dieses Scheiterns im Alltag die Propaganda vom real existierenden Sozialismus als der besten aller gegenwärtig möglichen Welten leerlief, ist Thema in Sorokins ebenfalls in den letzten Jahren der UdSSR entstandenem Folgeroman »Marinas dreißigste Liebe«. Hier verliert eine junge, der geschlechtlichen Liebe sehr zugetane Frau vor lauter politischen Parolen und Machtworten nach und nach ihre Individualität, bis sie nicht mehr anders kann, als in Propagandaphrasen zu denken, und sich ihre Persönlichkeit in seitenlangem manischen Zitieren ohne Punkt und Komma auflöst – das menschliche Subjekt hat sich gänzlich in ein bloßes Objekt der Politik verwandelt.

Was nach der Auflösung der Sowjetunion geschah, ist bekannt. Ein Bruch vollzog sich auch in Sorokins Schaffen: Wie die russische Realität in den 1990er Jahren jeder Idee von Humanität und jeder Vorstellung von Vernunft spottete, trat auch in Sorokins Werk das Irreale und Irrationale in den Vordergrund, zuerst in dem Roman »Die Herzen der vier«. Immer wieder arbeitete sich der Autor seither an der russischen Geschichte und der sowjetischen Vergangenheit und besonders deren Entgleisung in der Stalin-Zeit ab. Letzteres beispielsweise in »Der himmelblaue Speck«. Ersteres im – schon im Titel auf das Klischee vom russischen Winter anspielenden – »Schneesturm«.

Dessen Held gibt seinem jüngsten Roman den Namen: »Doktor Garin«. Der Arzt hat überlebt, wandelt nun sinnreicherweise auf Titanfüßen anstelle der seinerzeit erfrorenen und ist inzwischen, drei große Kriege später, durch die Russland in mehrere verfeindete Staaten zersplittert ist, Chef eines Nobelsanatoriums am Fuße des Altai-Gebirges. Dort behandelt die Koryphäe die »G8«, »die glorreichen Acht«: Donald Trump, Wladimir Putin, Emmanuel Macron, Silvio Berlusconi, Angela Merkel, Boris Johnson, Justin ­Trudeau und Abe Shinzo. Sie sind, da Sitzfleisch den Politiker auszeichnet, buchstäblich Ärsche geworden und werden mit einer speziellen Therapie ruhiggestellt – Elektroschocks mittels eines »Blackjack« genannten gummiknüppelartigen Gerätes.

Als ein Atomkrieg zwischen Kasachstan und der Republik Altai ausbricht, muss Garin mit seiner Geliebten Mascha und sechs überlebenden Arschgesichtern fliehen: und zwar huckepack auf übermannsgroßen Biorobotern, den »Majakowskis«. Damit beginnt auf irre Weise eine wirre Reise durch eine verrückt gewordene oder schon immer nicht normale Welt, die die Reisegruppe unter anderem zu russischen Anarchisten und zu gläubigen Bojaren führt – und in die Hände der »Zottelorks« fallen lässt.

Das sind bösartige Mutanten, mutiert infolge eines Atomtests, die auf Beutezug gehen, um die Gefangenen in Arbeitslagern auszubeuten: das böse Ende des Traums vom besseren Menschen. »Die Vergangenheit ist ein Rucksack voller ­Steine«, heißt es einmal. Anders als in der ­realen Geschichte gibt es aber in dieser fiktionalen ein Happyend – auch für, soviel sei verraten, Donald, Silvio und Wladimir, die ein Auskommen als Zirkustruppe finden.

Dystopie, politische Science-Fiction, Abenteuerroman, Fantasy, Mystik, schwarzer Humor: eine Menge Begriffe lassen sich auf diesen gewaltigen Roman anwenden, in den weitere Erzählungen bzw. Romanfragmente, dazu Gedichte, Träume und Lieder eingebettet sind – als wäre Sorokins Fabulierlust selbst angeheizt von jenen »Dopaminierern«, die seinem Romanhelden einmal in den Drogenrausch helfen.

So lässt sich eine grausame und gewalttätige, inhuman und unverständlich gewordene Welt aushalten, in der außer der Geliebten allein die Natur noch schön sein kann: »Der blassblaue Aprilhimmel im Osten sah aus wie mit zerlassener Butter bestrichen und war mit Federwolken betupft«, heißt es ziemlich zu Anfang; vom bedeutungsschwangeren Morgenrot ist da nicht die Rede. Und wird am Ende nicht alles – oder das, was von allem gerade noch übrig ist – gut? Man kann sie so oder so auslegen, die letzten zwei Sätze des Romans, Doktor ­Garins Fazit: »Das ist ­unsere Welt. Die ­beste Welt des Universums.«

Wladimir Sorokin: ­Doktor Garin. Aus dem Russischen von ­Dorothea Trottenberg, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2024, 592 Seiten, 26 Euro

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