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Aus: Literatur, Beilage der jW vom 20.03.2024
Belletristik

Was quälte uns die Rechtschreibreform!

Aber sonst geht’s gut: In Gerhard Henschels »Schelmenroman« erntet Martin Schlosser die Früchte seiner Feindschaften
Von Norman Philippen
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»Shakespeare« (2019)

Ob Gerhard Henschels »Schelmenroman« überhaupt einer ist? Die deutschen Literaturwarte hätten Mitte der 1990er Jahre wohl ­ihre Zweifel gehabt. Damals existierten vielleicht wirklich ein paar jener ominösen »Literaturgesetze«, an die sich schon 2021 nur noch der Literaturkritiker Volker Weidermann erinnern ­konnte. Dass tatsächlich wenig eigentlich Schelmisches im zehnten Martin-Schlosser-Band steckt, liegt indes wohl mehr am Gesetz der Romanserie. Haperte es im »Liebesroman« (2010) noch mit der Liebe, war der Schriftsteller im »Künstlerroman« (2015) ein noch unreifer, fehlte dem »Abenteuerroman« (2012) Abenteuerliches und ließ in »Erfolgsroman« (2018) dieser auf sich warten, geriet der »Schelmenroman« wohl gewollt unpikaresk.

Auch sonst bleibt zum Glück des Lesers alles beim alten, im Romankosmos wie beim darin wieder amüsant archivierten gesamtdeutschen Geplapper. Nicht nur die »Spiegel-Titelgeschichten wurden immer armseliger« – schon vor 30 Jahren. Die politischen Forderungen nach einem größeren Abstand zwischen Arbeitslohn und Sozial­hilfe oder nach Sachleistungen für Asylsuchende waren auch damals schon falsch. »In einer freien Welt genoß« zwar auch damals »nun einmal keine einzige Personengruppe ­Satireschutz«, doch lauerte »dieser ­finale Blick« der »­Humorzensur« nach Robert Gernhardts wie Schlossers Diagnose bereits in allen humorbefreiten Zonen des Landes. »Hörte dieses Gesülze denn niemals auf?«. Tat es nicht, sondern wurde bekanntlich nur lauter, vielstimmiger, weitreichender und folgenreicher, leider.

Wie etwa Günter Grass und der Sozial­philosoph Oskar Negt sich wegen in bestem Deutsch formulierten innerlinken Angriffen auf das Geseier der wiedervereinten BRD-Betroffenheitsgeysire empörten, steht im »Schelmenroman«. Was Gerhard Henschel und sein Titanic-Freundeskreis wider jene schrieben, die es doch am allergutesten meinten im Lande, blieb von Kabarettpolitik bis Politkabarett unverstanden. Das ficht den 1994 32jährigen Halbe-Stelle-Titanic-Redakteur Martin Schlosser nicht an. Dafür geht es ihm viel zu »primadobel«, läuft es geradezu »bomfortionös« für ihn. »Das Blöken der Lämmer. Die Linke und der Kitsch« und »Das Wörterbuch des Gutmenschen. Zur Kritik der moralisch korrekten Schaumsprache« erscheinen in Klaus Bittermanns Edition Tiamat. Die Kritik reagiert mitunter erheiternd erzürnt. Eine »leere, klappernde, logozentrische Scheiße« nennt in der Spex ­Dietmar Dath die beiden Bücher, dem wegen Schlossers Bewunderung für Walter Kempowski »schlecht« wird. Der verwirft den Plan einer Replik und erfreut sich an der Veröffentlichung seines Grundschulkrimis »Die gnadenlose Jagd« oder dem ebenfalls verrissenen »Supersache! Lexikon des Fußballs«. Bis Romanende werden fröhlich fünf weitere Bücher geschrieben.

In Ruanda wird massakriert, im Jemen tobt der Bürgerkrieg, in ­Bosnien-Herzegowina wird gemetzelt. Im Frankfurter Nordend ist der in einer WG mit dem Zeichner Heribert Lenz locker lebende Schlosser sehr zufrieden mit seiner Work-Sex-Life-Balance. Gelangweilte Germanisten mögen prüfen, wer zwischen zwei Buchdeckeln mehr Frauen verführt: Klaus Kinski in seiner Autobiographie »Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund« oder ­Henschels Alter Ego hier. Ich möchte das nicht nachzählen. Das »Unheil einer von ­neuem heraufziehenden und diesmal nicht christlich-abendländisch, sondern feministisch fundierten Prüderie« bekommt er auch als Romanheld allemal sanfter zu spüren, als der nicht nur von der »Frauenbande namens ­Wilde ­Spule II« in Göttingen handfest bedrohte ­Wiglaf Droste. Schlosser zieht es aus dem ungeliebten Frankfurt dennoch dorthin, wo die beiden die von den darin barbierten einst – doch davon mehr im nächsten »Schlosser« – lautstark beanstandete Satire »Der Barbier von Bebra« schreiben. »Massiv beanstandet«, so lehrt das Buch die Leser, wäre schon damals keine kluge Formulierung gewesen, als die blöde Adjektivphrase in Eckhard Henscheids Kompendium des »Dummdeutsche« aufgenommen wurde.

Die mit Droste geführte »Liste ekliger Wörter« verlängert sich dank ­vieler Dummdeutschender so spielend wie Schlosser Kerben in allerlei ­Bettrahmen ritzen könnte. Für das viele »Elendbiertrinken« liefert den besten Grund noch die geplante Rechtschreibreform, mit deren triftiger Zerpflückung das Buchs so hübsch endet. Henschel dafür einen Schelm schelten? Wenn aber doch alles so war …

Dass alles ziemlich genau so im Roman steht, wie es zwischen 1994 und 1996 ­gedacht und gesagt wurde und gewesen ist, ist ob des äußerst archivierungsfreudigen Autors mit dem soliden Gedächtnis einigermaßen ­gewiss. Was (schlimmer) wurde, von dem, was war, wirkt durch Henschels vom Logos verschmierte Karl-Kraus-Brille gesehen doppelt frappant bekannt. Was er beim nächsten Mal besser wieder bleiben lassen ­sollte, ist, Gefahr zu laufen, das vielleicht einzige, gut begründbare Literaturgesetz zu verletzen, das da lauten könnte »Romane dürfen niemals langweilen«. Dafür, dass es Martin Schlosser im »Schelmenroman« schlicht zu gut geht, als dass er über 600 Seiten hinweg tragi­komische Spannungsbögen hätte biegen wollen, nennt er allerdings ein gutes Argument: »Wenn man als sterblicher Mensch in einem absurden Universum lebte, sollte man das Dasein ja wohl bis in die letzten Winkel auskosten dürfen.« Zugegeben. Zumal in einem angesichts der allgemeinen Absurdität schön schlüssigen Romanuniversum, dessen Held und ­Autor gut und gerne noch zehn weitere Bände lang halten und logozentristische Scheiße aufschreiben dürfen, wenn beide schon nie unsterblich werden können.

Gerhard Henschel: Schelmenroman. ­Hoffmann und Campe, Hamburg 2024, 608 Seiten, 26 Euro

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