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Aus: Alternatives Reisen, Beilage der jW vom 21.02.2024
Alternatives Reisen

»Viele Muralisten beziehen Position«

»Bike Art Tour« durch Cochabamba: Mit dem Fahrrad die Wandgemälde Boliviens entdecken. Ein Gespräch mit Casilda Callejas
Von Pablo Flock
Eine Grabstätte in Britisch-Indien

Sie führen hier in Cochabamba/Bolivien die »Bike Art Tour« durch. Wie kann man sich das vorstellen?

Die »Bike Art Tour« ist eine interaktive Erkundungstour in das soziale, politische und künstlerische Gewebe der Stadt Cochabamba. Sie erlaubt uns, ein großes Gebiet in kurzer Zeit zu erkunden, da das Fahrrad das ideale Fortbewegungsmittel für die Stadt ist. Man kommt schnell an verschiedene Orte und sieht die schönsten Seiten der Stadt.

Welche Kunst bekommt Ihr Publikum dabei zu sehen?

Es geht um urbane Kunst, konkret größtenteils Muralismo, Wandgemälde. Doch viele der Künstler experimentieren auch mit anderen Techniken. So gibt es auch Sticker und Schablonentechniken zu sehen, und auch Graffiti – auch wenn es dazu natürlich innerhalb der Szene immer wieder Diskussionen gibt, ob Graffiti der urbanen Kunst zugehört oder ein eigenes Metier darstellt. Nun für uns, ja, wir sehen es als zugehörig zur urbanen Kunst, die sich dadurch auszeichnet, in der Stadt offen sichtbar zu sein. Obwohl die Kunst natürlich für alle kostenlos ist, hat man bei der »Bike Art Tour« den Vorteil, dass wir den Prozess dieser Wandgemälde kennen, wann und in welchem Kontext sie entstanden, ob sie von anderen zerstört wurden, ob sie danach wieder instand gesetzt wurden und wie die lokale Bevölkerung darauf reagierte. Auch welche Elemente und Stile die Künstler dabei verwendeten, welche Kollaborationen es dabei gab und wie diese zustande kamen.

Wir haben dieses Wissen, da wir auch Teil der Organisation der Bienal de Arte Urbano sind, die seit über zehn Jahren in Cochabamba stattfindet. Sie ist relativ bekannt und hat Kunstschaffende aus der ganzen Welt angezogen. Wir kennen sie, ihre vorherigen Arbeiten, ihre Themen und Ideen (…) etwa Bastardilla aus Kolumbien, die immer Frauen malt, oder Mandrabula, der immer hyperrealistisches in blau malt. Somit können die Besucher auch selbst mehr über die Techniken der Straßenkunst und deren Szene lernen und dabei die schönen Gemälde bewundern.

Von meiner Tour im letzten Mai ist mir besonders die Gruppe, die Mosaike macht, im Gedächtnis geblieben …

Las Cuzcas, ja? Das ist eine Gruppe von Frauen hier aus dem Viertel Villa Colonia. Früher galt die Gegend als gefährlich und marginalisiert. Doch dank der Kunst und weiterer Entwicklungen wurde das Viertel anerkannter. Nun sind auch andere Frauen ohne Kunstbildung dabei, die experimentierten und jetzt Kurse geben. Sie haben ihre Werkstatt im Kulturzentrum Martadero, wo wir die Tour beginnen. Von kleinen sehr dekorativen Kunstwerken mit Fliesenscherben sind sie nun zu sehr entwickelten Arbeiten gekommen, die auch einen politischen Anspruch haben. Und das von größtenteils Hausfrauen, die über dieses Medium jetzt auf schöne Art und Weise ihre Überlegungen zur Gesellschaft darstellen. Eines meiner Lieblingsprojekte von ihnen sind die Säulen, die sie vor der Kirche Santa Teresa gestaltet haben. Auf jeder Säule sind Frauen aus Cochabamba zusammengepuzzelt: eine Grundschullehrerin, eine Frau, die frisch gepressten Orangensaft verkauft, eine, die Kartoffeln verkauft, eine Nonne, eine Putzfrau und so weiter. Es gibt auch eine Frau auf einem Fahrrad.

Und die andere Gasse, wo sie Porträts von verschiedenen südamerikanischen Künstlerinnen, Sängerinnen und Autorinnen angebracht haben, die man dann teilweise auch animiert auf dem Handy sehen kann …

Diese Durchgangsgasse hat sich dadurch völlig verändert. Sie hieß Passage des San Raffael, nun nennen wir sie die Passage der Schöpferinnen. Andere sagen auch Passage der Frauen. Mit einer App kann man die Porträts animiert sehen und die Musik von Mercedes Sosa oder Violeta Parra hören. Diese App wurde für die BAU 2021 programmiert, als man diese in der Pandemie nicht wie gewohnt mit Treffen zwischen Künstlern und Publikum etc. durchführen konnte. Somit bekamen verschiedene Wandgemälde der Vorjahre solche Animationen mit Geräuschen, Text oder Musik. Das gefällt vielen Leuten.

Viele der zu sehenden Künstler haben auch einen mal mehr, mal weniger offensichtlichen politischen Anspruch. Welche Rolle spielt die Politik für die Straßenkunst in Cochabamba und umgekehrt?

Der südamerikanische Muralismo ist generell sehr politisch. Seit seinen Anfängen als Produkt der Mexikanischen Revolution und bis heute nehmen und beziehen viele Muralisten Position in aktuellen politischen Debatten. Gerade die Muralistinnen setzen oft feministische Impulse, thematisieren Femizide oder wollen Frauen und Mädchen Mut machen. Viele äußern sich auch zu Natur- und Artenschutzthemen, etwa dem Schutz des Amazonas, der hier direkt beginnt. Manche sind auch expliziter antikapitalistisch.

Ich mag sehr die Wand von Oveja aus der BAU 2017, wo er die damalige politische Debatte um das Referendum (zu der von Evo Morales vorgeschlagenen Verfassungsänderung, jW) in einem Graffiti mit einem Ja- und einem Neinteil darstellt – ohne zu werten. Trotzdem gefiel diese Arbeit vielen nicht, vielleicht auch gerade weil sie keine Position einnimmt. Es wurde mehrfach vandalisiert und zum Beispiel mit »Grafitero Masista« beschmiert (Masistas sind Anhänger der Partei Movimiento al Socialismo, MAS, von Morales, jW).

In dem Mural mit dem Tinku, dem traditionellen rituellen Kampf, ist auch der Expräsident zu sehen …

Ah ja, das ist eines der vom Format her größten Wandbilder in Cochabamba. Es stellt den Tinku in seinen zwei Bedeutungen dar, die Verbindung zur Tradition und den Vorfahren und das folkloristische Element eines Volksfesttanzes. Und ja, das eine Gesicht ähnelt sehr Evo Morales. Das sagen viele Leute, aber wenn man die lokalen Phänotypen in Bolivien und Cochabamba ansieht, dann ähneln viele dem Evos. Das Bild spielt natürlich auch mit dieser Erkenntnis über die Identifikation der Leute mit dem ersten indigenen Präsidenten – auch wenn die genannte, mit einer mit demonstrierenden Massen bemalten Jacke dargestellte Person auf dem Bild gerade einen herben Schlag hinnehmen muss. Das gibt viel Raum für Interpretation. Der Künstler, Puriskiri, ist von hier.

Wenn du schon andeutest, dass Evo aus der Gegend kommt – welche Bedeutung hat denn Cochabamba für das politische Bolivien?

Cochabamba war immer ein strategisch wichtiges Gebiet, schon in der Kolonialzeit und davor, weil es im Herzen Boliviens und an der Grenze, als Tor, zwischen den höheren Ebenen der Anden und den tropischen Gegenden des Amazonas liegt. Es war also oft ausschlaggebend in den Konflikten der zwei politischen und ökonomischen Zentren, La Paz und Santa Cruz. Hier war dank der fruchtbaren Erde auch schon der Brotkorb des Inkareichs. Es ist stets umkämpftes Territorium. So war zum Beispiel in der politischen Krise 2019 der von Cochabamba ausgehende Aufstand der Polizeikräfte, neben der Verlautbarung der Streitkräfte, einer der Hauptfaktoren, die Evo aus dem Amt trieben. Cochabamba ist die Stadt, in der durch diese gesamte Phase hindurch paramilitärische Kräfte stationiert waren.

Das beschauliche Cochabamba mit seinem angenehmen Talklima war in Krisen immer entscheidend – zum Beispiel auch während der Wasserrevolution im Jahr 2000, als die Proteste hier die von der Weltbank vorangetriebene Privatisierung des Wassers in Cochabamba und Bolivien nachträglich zum Scheitern brachten. Ich arbeite gerade auch an einer weiteren, nicht so mit der Straßenkunst verbundenen Führung, die sich mit solchen politischen Umbruchmomenten in Cochabamba beschäftigt. So gab es nach Evos Sturz ein Massaker an Demonstranten, die aus der nahegelegenen Kokabauerngegend Chapare hierherkamen.

Gewisse Dinge sind die Leute hier bereit zu verteidigen, koste es, was es wolle. Aber sonst kann die Bevölkerung des warmen, großzügigen Cochabambas manchmal auch einfach vom Populismus manipuliert werden oder ignorant sein gegenüber den Problemen, die in anderen Gegenden herrschen.

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