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Aus: XXIX. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz, Beilage der jW vom 31.01.2024
Rosa-Luxemburg-Konferenz 2024

Afrikas letzte Kolonie

Marokko hält seit 1975 große Teile der Westsahara besetzt und wird dabei auch von deutschen Unternehmen unterstützt
Von Saleh Sidmustafa

Der Krieg in der Ukraine, die Ermordung und Vertreibung der Palästinenser in Gaza, das langjährige Embargo der USA gegen Kuba, das sind Themen, die in vielen politischen Diskussionen präsent sind. Wenig präsent ist, dass es in Afrika heute immer noch eine Kolonie gibt. Die letzte Kolonie Afrikas ist die Westsahara.

Die Westsahara liegt an der afrikanischen Atlantikküste und grenzt im Norden an Marokko, im Nordosten an Algerien und im Osten und Süden an Mauretanien. Nach der Berliner Konferenz von 1884, auf der Afrika unter den europäischen Kolonialmächten wie ein Kuchen aufgeteilt worden war, wurde die Westsahara zum spanischen Protektorat erklärt und erhielt den Namen Spanisch-Sahara. Im Dezember 1963 erklärten die Vereinten Nationen die Westsahara zu einem nicht selbstverwalteten Gebiet und erkannten damit das Recht der Sahrauis als kolonialisiertes Volk auf Selbstbestimmung an. Nach Jahren des gewaltlosen antikolonialen Widerstands gegen die spanische Präsenz wurde im Mai 1973 die Frente Polisario als Befreiungsbewegung in der Westsahara gegründet, die das arabische Volk und seinen kollektiven Willen zur nationalen Unabhängigkeit vertritt.

Der Grüne Marsch

Aufgrund des Drucks verschiedener europäischer Staaten und der zunehmenden militärischen und politischen Aktionen der Polisario erklärte Spanien schließlich seine Absicht, Anfang 1975 ein Referendum über die Selbstbestimmung in der spanischen Westsahara abzuhalten. Marokko und Mauretanien lehnten dies ab und beantragten ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über den vorkolonialen Status des Gebiets. Am 16. Oktober 1975, am Tag der Veröffentlichung des Gutachtens, das die Entkolonialisierung der Westsahara befürwortete und das Marokko in seinem Sinne interpretierte, ordnete der marokkanische König Hassan II. den sogenannten Grünen Marsch an. Der Grüne Marsch, bei dem 350.000 Marokkaner den Anspruch des Königreichs auf die Westsahara geltend machten, war der erste Schritt zur Übernahme der vormaligen spanischen Kolonie und der Aufteilung des Landes unter Marokko und Mauretanien. Nach einem am 14. November in Madrid unterzeichneten Geheimabkommen zwischen den beiden Ländern und Spanien kam es zu einem Krieg zwischen der marokkanischen und der mauretanischen Armee auf der einen und den Befreiungskräften der Frente Polisario auf der anderen Seite. Mauretanien zog sich schließlich 1979 aus der Westsahara zurück. Marokko annektierte dieses Gebiet daraufhin.

Anfang der 1980er Jahre begann Marokko mit dem Bau eines 2.700 Kilometer langen, stark verminten Sand- und Steinwalls, der die Westsahara in zwei Gebiete teilte und den marokkanisch okkupierten Abschnitt vom Rest des Landes trennte, der noch heute unter der Kontrolle der Frente Polisario steht. Auf diese Weise wollte das Königreich die Besetzung von etwa zwei Dritteln des Territoriums der Westsahara sichern. Die marokkanische Besatzung zwang einen Großteil der arabischen Bevölkerung, aus dem Land zu fliehen und im Südwesten Algeriens Schutz zu suchen, wo in der Nähe der Stadt Tindouf Flüchtlingslager errichtet wurden. In einem dieser Flüchtlingslager bin ich geboren und aufgewachsen. Meine Familie lebt bis heute dort.

In den von Marokko besetzten Gebieten ist die arabische Bevölkerung seit Jahrzehnten Enteignungen und Repres­sionen ausgesetzt. Wie von den Vertretern einer Vielzahl internationaler und lokaler Organisationen dokumentiert, sind viele Sahrauris Opfer verschiedener Formen von Gewalt geworden, vor allem wegen ihres politischen Engagements. Die marokkanischen Behörden haben auf dem Gebiet Tausende marokkanische Bürger angesiedelt und damit die einheimische Bevölkerung der Westsahara zu einer Minderheit in ihrem eigenen Land gemacht.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass der Konflikt in der Westsahara keine ethnische oder religiöse Natur hat. Es handelt sich auch nicht um einen Klassenkonflikt. Es ist vielmehr ein internationaler Konflikt politischer Natur. Auch die Vereinten Nationen betrachten die Westsahara-Frage als eine Frage der Entkolonialisierung. Daher befindet sich das Gebiet auch seit 1963 auf der Liste der 17 nicht selbstverwalteten Gebieten, die noch entkolonialisiert werden müssen.

Ende der 1980er Jahre erkannte der marokkanische König Hassan II. angesichts der enormen Kriegskosten an, dass ein militärischer Sieg der Armee gegen die Frente Polisario nicht möglich sei. Wir sind ein kleines Volk, aber wir sind unbesiegbar. Deshalb haben die beiden Konfliktparteien, die Frente Polisario und Marokko, einen von den UN vorgeschlagenen Friedensplan akzeptiert, der nach 16 Jahren bewaffneten Konflikts eine friedliche Lösung ermöglichen sollte. Der Plan sah einen Waffenstillstand vor, auf den ein freies und faires Referendum über die Selbstbestimmung des Gebietes ohne militärische oder administrative Zwänge folgen sollte, um der Bevölkerung der Westsahara in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts die Möglichkeit zu geben, zwischen der Unabhängigkeit und der Vereinigung mit Marokko zu wählen.

Zu diesem Zweck richtete der Sicherheitsrat am 29. April 1991 unter seiner Aufsicht die Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara occidental, kurz Minurso, ein. Sie wurde entsandt, um einerseits den Waffenstillstand zu überwachen und andererseits das Referendum für das arabische Volk zu organisieren. Trotz aller Widrigkeiten gelang es der Minurso im Januar 2000, die Liste der Wahlberechtigten für das Referendum zu erstellen und damit den Weg für die Abstimmung frei zu machen. Aber genau zu diesem Zeitpunkt erklärte Marokko, dass es nicht mehr gewillt sei, das Referendum über die Selbstbestimmung durchzuführen. Offensichtlich aus Angst, die Abstimmung zu verlieren. Als Marokko 20 Jahre später, am 30. November 2020, den Waffenstillstand von 1991 verletzte, nachdem es zuvor jahrelang das Referendum über die Selbstbestimmung verhindert hatte, erklärte die Frente Polisario, dass sie gezwungen sei, von ihrem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch zu machen und folglich den bewaffneten Befreiungskampf wieder aufnehmen würde. Infolgedessen ist das Gebiet der Westsahara wieder zu einer Zone des offenen Krieges geworden. Mittlerweile werden die militärischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Parteien entlang des illegalen marokkanischen Militärwalls der Schande in der Westsahara fortgesetzt und intensiviert.

Wirtschaftliche Interessen

Warum ist die Westsahara-Frage immer noch nicht gelöst? Die Erklärung ist einfach: In der Westsahara herrscht das Prinzip »Macht setzt Recht«. Marokko kann die militärische Besetzung von Teilen des Gebiets ungestraft fortsetzen, weil es von Frankreich als Mitglied des UN-Sicherheitsrates unterstützt wird und weil auch die EU und die USA Marokko direkt und indirekt unterstützen. Dabei geht es um die wirtschaftlichen Interessen Marokkos und seiner westlichen Partner.

Wir wissen alle, wie hungrig und aggressiv das Kapital ist. Die besetzte Westsahara beherbergt eines der größten und qualitativ hochwertigsten Phosphatvorkommen weltweit, und die Gewässer vor der über 1.400 Kilometer langen Küste verfügen über einen der größten Fischbestände der Welt. Das Territorium hat ein so enormes Potential für die Gewinnung von erneuerbaren Energien, also von Wind- und Solarenergie sowie der Produktion von »grünem« Wasserstoff, dass es die gesamte Maghreb-Region und sogar Europa mit Strom versorgen könnte. Deshalb ist der deutsche Siemens-Konzern einer der Hauptpfeiler der marokkanischen Strategie des Greenwashing in der Westsahara.

Es gibt viele internationale, aber vor allem deutsche Unternehmen, die mit Marokko kooperieren. Das ist besonders im deutschen Kontext wichtig zu wissen. Dazu zählen: das Bremer Unternehmen Köster Marine Proteins (KMP), der größte EU-Importeur von Fischmehl aus der Westsahara, Thyssen-Krupp, Continental, die Reederei Oldendorff Carriers und Siemens Energy, die die Siedlungspolitik in der Westsahara durch Infrastrukturaufbau unterstützen.

Heute ist die Solidarität mit der Westsahara wichtiger denn je. Die Westsahara muss endlich unabhängig werden. Marokko muss die letzte Kolonie Afrikas aufgeben. Es lebe die internationale Solidarität!

Saleh Sidmustafa ist stellvertretender Repräsentant der Polisario-Front in Deutschland.

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