Wer stellt die Weichen?
Von Nick Brauns
Rojava – die Autonomieregion in Nord- und Ostsyrien – ist zur Projektionsfläche für Wünsche und Hoffnungen linker Aktivisten in aller Welt geworden. Der Diskurs wird dabei von Schlagworten wie »Basisdemokratie« und »Geschlechtergerechtigkeit« bestimmt. Der Berliner Journalist Christopher Wimmer, der sich bislang eher historisch mit Rätedemokratie befasst hat (zuletzt im Buch »Die Kommunen vor der Kommune 1870/71«), ist 2022 für mehrere Monate zum Praxistest nach Nord- und Ostsyrien gereist. Er wollte der Frage nachgehen, wo die Region eine Dekade nach der im Windschatten des syrischen Bürgerkrieges zuerst von kurdischen Kämpfern vorangetriebenen »Rojava-Revolution« steht. Wimmer sprach mit Politikerinnen und Aktivisten, Soldatinnen und einfachen Bürgern, Unterstützerinnen und Gegnern der Selbstverwaltung, Arabern, Kurdinnen und Assyrern. Sein als Nautilus-Flugschrift erschienenes Buch »Land der Utopie? Alltag in Rojava« ist mit grundsätzlicher Sympathie verfasst, ohne unkritisch zu sein. Es verdeutlicht die Mühen der Ebene beim Aufbau einer von vielen Seiten bedrohten Gesellschaft mit revolutionärem Anspruch und begrenzten Möglichkeiten.
Kein kurdisches Projekt
»In den westlichen Medien wird die Autonomieverwaltung häufig als kurdisch dominiert wahrgenommen. Doch das stimmt nicht. Sie ist kein kurdisches Projekt, sondern ein Projekt der verschiedenen Völker der Region«, betont Wimmer, der darauf verweist, dass eine Mehrheit der rund fünf Millionen Menschen auf dem Gebiet der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES) Araber sind. Während christliche Assyrer und einzelne Scheichs mit ihren Stämmen sich von Anfang an voller Überzeugung an der Selbstverwaltung beteiligt haben, sei das Verhältnis zwischen Kurden und den vielfach als »unsicheren Kantonisten« beschriebenen Arabern »weiterhin angespannt, da es auf beiden Seiten an Vertrauen mangelt«, meint Wimmer. Obwohl die Zukunft der Selbstverwaltung von der kurdisch-arabischen Allianz abhänge, reiche »schon ein Funke, um einen neuen Konflikt ausbrechen zu lassen«. Ein Aufstand arabischer Stämme seit Ende August in Deir Al-Sor scheint diese Befürchtung zu bestätigen.
Ihrem vom Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung Abdullah Öcalan geprägten Selbstverständnis nach ist die AANES eine nichtstaatlich organisierte Demokratie. »Dem Ideal der Antistaatlichkeit steht die Tendenz zum Aufbau protostaatlicher Strukturen gegenüber, die die Grundlage eines zukünftigen Staats sein könnten«, stellt Wimmer klar. Durch die Räte sei es zwar gelungen, große Teile der Bevölkerung – insbesondere ethnische und religiöse Gemeinschaften, Frauen und Jugend – an der Selbstverwaltung teilhaben zu lassen, doch zeigten sich auch Ermüdungserscheinungen und politische Apathie. Ehrenamtlich tätige Bürger ziehen sich aus den Kommunen zurück, wodurch die Basisgremien Gefahr laufen, auf Kader der politisch führenden Partei der Demokratischen Union PYD begrenzt zu werden.
Wenn ein Staat laut Friedrich Engels eine »besondere Formation bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und anderes zu ihrer Verfügung haben«, ist, dann gilt das auch für die AANES. Schließlich unterhält sie mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDK) eine 100.000köpfige bewaffnete Formation, zudem gibt es Gefängnisse, nicht zuletzt für Zehntausende gefangene Kämpfer des »Islamischen Staates« (IS). Der revolutionäre Anspruch wird beim neuen Justizsystems deutlich, »das nicht mehr dem Staat, sondern der Bevölkerung gegenüber rechenschaftspflichtig sein und demokratisch kontrolliert werden« soll. Dessen Grundlage sind aus gewählten Bürgern gebildete Friedenskomitees, die auf Schlichtung, Aussöhnung und Prävention setzen. Nur dort nicht gelöste Fälle oder Kapitalverbrechen kommen vor traditionelle Gerichte, wobei Folter verboten und die Todesstrafe anders als im übrigen Syrien abgeschafft ist.
Revolution der Frauen
Angemessen erscheint Wimmer der Begriff der »Frauenrevolution«, um den gesellschaftlichen Wandel zu kennzeichnen. »Vor allem in den Köpfen der Frauen scheint sich ein neues Bewusstsein unumkehrbar entwickelt zu haben. Ihre aktive Beteiligung ist sicherlich die größte Errungenschaft in dieser Hinsicht.« Doch die in westlichen Medien während des Krieges gegen den IS als scheinbar exotische Amazonen gefeierten Kämpferinnen der Frauenbefreiungskräfte YPJ sind nur eine Seite der Realität. Denn weiterhin können Frauen aufgrund tief verwurzelter patriarchaler Denk- und Handlungsstrukturen nicht in Cafés oder als Taxifahrerinnen, sogar kaum als Verkäuferinnen arbeiten und bleiben daher vielfach von männlichen »Ernährern« materiell abhängig.
Illusionslos ist Wimmers Schilderung einer weiterhin kapitalistischen Ökonomie, die eine »seltsame Melange« aus quasistaatlicher Lenkung, Privateigentum und einem eigentlich kommunalen Anspruch darstellt. Es bleiben »eklatante ökonomische Ungleichheiten, Klassenunterschiede«. Armut ist – infolge des mehrfachen Embargos durch Damaskus, die Türkei und die irakische Kurdistan-Region sowie die westlichen Sanktionen gegen ganz Syrien – weitverbreitet. Kooperativen, deren Bildung die Selbstverwaltung fördert, spielen bislang eine marginale Rolle. Auf dem Gebiet der von Damaskus nicht anerkannten AANES befinden sich die syrischen Ölfelder, ein Großteil ihres Zivilhaushalts speist sich daraus. »Beim Öl und beim Gas geht es in Nord- und Ostsyrien ans Eingemachte – auch machtpolitisch«, schreibt Wimmer. Das werde dadurch deutlich, dass bei Verhandlungen über Ölverkäufe mit der syrischen Regierung hohe SDK-Vertreter am Tisch saßen. Auf Vorwürfe aus Damaskus, wonach die SDK im Bündnis mit den USA das syrische Öl rauben, geht Wimmer nicht ein.
Die syrische Regierung nennt er einen »widersprüchlichen Gegner«, mit deren Kräften sich in Städten wie Kamischli eine »seltsame Koexistenz« entwickelt habe – gelegentliche Scharmützel mit regierungsnahen Milizen eingeschlossen. Andererseits gibt es sogar eine begrenzte militärische Kooperation zwischen der syrischen Armee und den SDK gegen die von der Türkei unterstützten Söldner, worüber Wimmer nichts schreibt. Die AANES versteht sich als Teil Syriens, Separatismusvorwürfe werden zurückgewiesen. Doch innersyrische Verhandlungen über eine politische Eingliederung sind bislang an der Unbeweglichkeit von Damaskus in der Frage einer Dezentralisierung gescheitert – aber auch an der Präsenz der US-Truppen im Gebiet der AANES.
Von den USA im Stich gelassen
Relativ unterbelichtet bleibt in Wimmers Buch diese offiziell gegen den IS gerichtete und von den Akteuren als rein taktisch beschriebene Allianz der SDK mit dem US-Militär. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass die 900 in Nord- und Ostsyrien stationierten US-Soldaten im Alltagsleben kaum eine Rolle spielen. »Ab Ende 2015 übernahmen die USA de facto die Rolle als SDK-Luftwaffe« gegen den IS, schreibt Wimmer und verrät, dass die USA im vergangenen Jahr Ausgaben der SDK in Höhe von 177 Millionen Dollar getragen haben. Welche politischen Abhängigkeiten sich dadurch ergeben, lässt er offen. Eine Kurdin, die vor einem von Washington gebilligten türkischen Einmarsch geflohen ist, wird allerdings mit den Worten zitiert, »Die USA sind nur hier, um das Erdöl und ihre Profite zu schützen. Wir haben ihnen vertraut, und sie haben uns im Stich gelassen.«
Wimmers Darstellung der widerspruchsvollen Realität mag ernüchternd wirken – defätistisch ist sie nicht. In Nord- und Ostsyrien herrsche das Bewusstsein darüber, dass Revolution kein einmaliger Akt ist, sondern ein langfristiger sozialer Prozess des Aufbaus einer neuen Gesellschaft. »Für sie ist die ›Rojava-Revolution‹ permanent und dauert weiter an.« Ähnlich haben Fidel und Raúl Castro die Entwicklung auf Kuba beschrieben, wobei auf der Karibikinsel, anders als in Rojava, schon früh die ökonomischen Weichenstellungen zur sozialistischen Revolution erfolgt sind.
Christopher Wimmer: Land der Utopie? Alltag in Rojava. Edition Nautilus, Hamburg 2023, 272 Seiten, 20 Euro
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