»Als hätte ich eine Wahl«
Von Katharina Bendixen
Bislang hat der Autor Jan Kuhlbrodt seine Krankheit aus seinen Texten herausgehalten, »vielleicht (…) aus Angst, sie würde den Text übernehmen, so wie sie letztlich nach und nach mein Leben bestimmt«. Er wollte sich die Lebenszeit, die die Multiple Sklerose ihm lässt, auch nicht »mit hartnäckigen und wie es scheint aussichtslosen Kämpfen verderben (…) Aber verdorben wird mir meine Restzeit ohnehin«, stellt er lakonisch fest, »wie lang sie auch sein mag. Also sollte ich anfangen zu kämpfen.« Nach zahlreichen Lyrikbänden, Essays, Rezensionen und einem Roman kämpft Jan Kuhlbrodt nun also – »zumindest soweit es meine Kraft erlaubt«.
Bereits der Titel seines neuen Buchs klingt angriffslustig: »Krüppelpassion« heißt der autobiographische Band, der oft wütende und anklagende Töne anschlägt. Denn »Krüppel« sagt man natürlich ebensowenig, wie man Gehhilfen als »Krücken« bezeichnet. Mit seinen »Krücken« konnte Kuhlbrodt einige Leseorte noch besuchen; heute, da er im Rollstuhl sitzt, sind ihm viele Orte unerreichbar geworden – sogar das Literaturinstitut, an dem er einst studierte und vor nicht allzu langer Zeit noch lehrte. Und darf man einen, der einen Großteil seiner Zeit krankheitsbedingt in seiner »Buchte« verbringt, für sein Lesepensum oder für sein Durchhaltevermögen bewundern? »Schiere Not« nennt Kuhlbrodt die Berge an Lektüre, die er bewältigt, und den anderen Bewunderern ruft er zu: »Ich frage mich dann, warum man mir den Verlust als Vermögen unterstellt. Oder das Weiterleben mit dem Verlust, als hätte ich eine Wahl.«
Die Buchte also, voller Bücher, Fotos und Erinnerungen, die Kuhlbrodt immer wieder in die Vergangenheit führen. Denn: »Das Vergangene (…) überwiegt inzwischen, ist bei weitem mehr geworden, als das noch Kommende verspricht, bereithält.« Das Vergangene, das ist der Radfahrer, den Kuhlbrodt als Schüler betreut, als die Friedensfahrt durch Karl-Marx-Stadt führt. Das Vergangene ist das Studium, während dem die ersten Krankheitssymptome auftreten, die Kuhlbrodt aber nicht wahrhaben will. Das Vergangene sind Lektüren – angefangene, wiedergelesene, bewunderte –, und es ist immer wieder Kuhlbrodts Verpflichtung für die Nationale Volksarmee. Er, der 1966 in Karl-Marx-Stadt geboren wird und als Jugendlicher leidenschaftlich gern Science-Fiction-Texte liest, verpflichtet sich im Alter von 13 Jahren zu einer Laufbahn als Berufsoffizier. Würde er auf diese Weise nicht Lems Helden in den Weltraum folgen? Mit jedem Schuljahr erscheint dem jungen Kuhlbrodt jedoch die Aussicht, zur Armee gehen zu müssen, erschreckender – aber wie entkommen? »Wahrscheinlich«, schreibt Kuhlbrodt, »hätte ich damals jede nicht unmittelbar tödliche Erkrankung akzeptiert, die mich aus meiner Verpflichtung gerettet hätte«. Fast zwanghaft kreist der Text um diese Zeit. Weiter heißt es: »Heute versuche ich manchmal in dieser Phase meines Lebens den Grund der Erkrankung zu finden. Kurz natürlich nur, weil ich mir sofort in die Gedanken falle und weiß, dass mir derartig Psychologisiererei auch nicht hilft.« Erst spät im Text wird die Wut und Verzweiflung durch eine gewisse Versöhnlichkeit gelindert: »Es ist nicht so, dass ich den Tod herbeisehne, aber er hat seinen Schrecken verloren. Wäre ich religiös, würde ich vielleicht von Erlösung sprechen.« Aber wünschen die Lesenden sich diese Versöhnlichkeit wirklich für den Autor? Oder nicht eher für sich selbst, um den eigenen Schrecken zu lindern?
»Krüppelpassion« verbindet immer neue Zeiten und Motive. Das Prinzip seines Buchs vergleicht Kuhlbrodt mit dem diagnostischen Verfahren der Computertomographie: Er betrachtet sein Leben aus verschiedenen Perspektiven, setzt es aus immer neuen Bildern zusammen, so lange, bis sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem einzigen Bild vereinen – etwa wenn Kuhlbrodt sich an die Trickfilmfiguren seiner Kindheit erinnert, die an den zusammengeklebten Stellen der Filmrolle zuckten, und er dieses Zucken mit den Spasmen vergleicht, die seinen Körper in den Nächten quälen. Auch die Science-Fiction-Welten aus seiner Kindheit weisen in die Gegenwart. Wenn Kuhlbrodts Leben fast nur noch im Lesen stattfindet, er sich also in allen Zeiten und Räumen gleichzeitig aufhalten kann – gehört er dann vielleicht der Gattung der Q an, »die jenseits der Raumzeit in einem sogenannten Q-Kontinuum lebt«? Das legt der Text zuerst nahe, um es kurz darauf wieder zu negieren: »Ich bin kein Q.« Im Angesicht einer unheilbaren Krankheit hat nur weniges noch Bestand. »Ich weiß noch, wie es war zu laufen«, heißt es einmal und später: »Ich kann mich heute nicht mehr daran erinnern, wie es ist zu gehen.« Und so ist »Krüppelpassion« nicht nur ein Buch über Krankheit und Ableismus. Kuhlbrodt erzählt am Beispiel seiner Krankheit über die Unbeständigkeit unserer Wahrnehmung. Darüber, wie wir uns unsere eigene Geschichte immer wieder auf neue Weise erzählen. Wie wir nach Zusammenhängen und Verbindungen suchen. Und sie manchmal finden.
Jan Kuhlbrodt: Krüppelpassion oder Vom Gehen. Gans-Verlag, Berlin 2023, 240 Seiten, 30 Euro
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