China tickt anders
Von Wolfram Elsner
Chinas Anteil am Weltsozialprodukt (WSP) betrug während der Song-Dynastie (960–1279) 40 Prozent und noch 1820, kurz vor der Ruinierung des Landes durch die europäischen Barbaren, circa 33 Prozent. Die Pax Sinica währte mindestens 1.500 Jahre, eine Zeit ohne nennenswerte Kriege in Zentral-, Süd- und Ostasien, ohne Länder- und Völkervernichtungen, ohne Rassismus, ohne Sklaverei (wie in der europäischen Antike) und ohne bäuerliches Leibeigentum (wie im europäischen Mittelalter). Asien war entlang der alten Seidenstraßen und ihren Handelszentren, auch immer multikulturell und multireligiös.
Nach dem »Jahrhundert der Demütigung«, 1950, repräsentierte China nur noch 4,6 Prozent des WSP. Nach Hungersnöten und der Kulturrevolution waren es bis 1980, dem Beginn von »Reform und Öffnung«, noch 2,3 Prozent.
Und heute? Eine Bedrohung der »freien Welt« durch einen Wiederaufsteiger, der »uns alle« abhängig machen will? 2022 hat China einen WSP-Anteil von 18,9 Prozent, bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von 18,5 Prozent (!). Chinas Stellung im Exportmarkt ist dabei mit 15,5 Prozent Weltexportanteil im Verhältnis zum Bevölkerungsanteil sogar unterdurchschnittlich: Faktor 0,8. Die Zahlen für Deutschland: 7,3 zu 1,1 Prozent, Faktor 6,6. Wer also macht hier andere abhängig von seinen Gütern, entsprechenden Krediten, Kapitalexporten, seiner Währung und am Ende seinen »Werten«? China hat das riskante Exportweltmeistermodell schon lange aufgegeben und überlässt es dem exportabhängigen Deutschland. Und Chinas Kredite an andere Länder werden gedeckelt, bevor es zu einer Schuldenabhängigkeit kommt, im Gegensatz zu Weltbank und IWF.
Neue alte Normalität
China wird als systemisch mobilisiertes, effektives und innovatives Land seinen Anteil am WSP noch erhöhen. Zwar werden es keine 40 Prozent mehr, aber wir sind offenbar auf dem Weg zurück zu einer jahrtausendealten historischen Normalität. Und vor dem geschichtlichen Hintergrund ist Chinas heutiges Selbstverständnis als größtes Entwicklungsland zu verstehen. Sein nominales Pro-Kopf-SP liegt mit etwa 13.000 US-Dollar p. a. (nominal) immer noch unter dem Weltdurchschnitt.
Die Außenpolitik Chinas versteht sich seit 1949, dem Gründungsjahr der Volksrepublik, als antihegemonial und multipolar; es werden multilaterale statt bilateral-exklusive Abkommen geschlossen und in multilateralen Foren mit den jeweiligen Ländergruppen regelmäßig und transparent verhandelt. Das Land ist Teil der UN-Süd-Süd-Kooperation, alle chinesischen Initiativen sind in die UNO integriert. Und seit 30 Jahren führt die erste Reise des chinesischen Außenministers im Jahr nach Afrika.
Das Prinzip der friedlichen Koexistenz bedeutet bekanntlich strikte nationale Souveränität und territoriale Integrität aller Länder, strikte Nichteinmischung, Nichtangriff, Entwicklung von Win-Win-Kooperationen – alles heute integriert in die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (engl. Shanghai Cooperation Organisation, SCO), BRICS oder die neue Ostasiatische Freihandelszone (Regional Comprehensive Economic Partnership, RCEP), die 2021 begann. China hat eine starke Friedens- und Nichtangriffsverpflichtung in seiner Verfassung. Die SCO bekräftigt seit 2001: Unsere Mitglieder werden nicht zuerst Atomwaffen einsetzen (man vergleiche die Leitlinien der NATO).
Und die stets betonten »chinesischen Charakteristika« bedeuten: »Unser System gilt nur für uns!« Es ist, anders als eurozentriert- und angelsächsisch-imperiales Denken, kein Exportprodukt. Die Nichteinmischung geht so weit, dass China wohlgesinnte westliche Thinktanks dem Land empfehlen, bei seinen Infrastrukturinvestitionen in manchen institutionell schwachen Entwicklungsländern stärker regulierend einzugreifen, um die ökologischen Standards dort auf das hohe innerchinesische Niveau zu heben.
Globale Initiativen
Viele außenpolitische Initiativen der Volksrepublik sind hierzulande unbekannt, von der Globalen Entwicklungsinitiative, GDI, der Globalen Sicherheitsinitiative, GSI, bis zur Globalen Zivilisationsinitiative, GCI. Sie werden heute von jeweils mehr als einhundert Ländern unterstützt, die diese Themen im Rahmen der UN mit konkreten Kooperationen unterfüttern.
Beijing initiierte auch rasch eine Aufbaukonferenz »C5+1« (Zentralasien und China) aller Nachbarländer für Afghanistan, die die schlimmste Hungersnot dort verhindern konnte und das Land wieder mit Zentralbankreserven ausstattete, welche die rund neun Milliarden Dollar Zentralbankreserven, die die USA dem Land gestohlen haben, ersetzen. Jetzt, nachdem das Knie des Weltpolizisten nicht mehr auf seinen Hals drückt, kann Afghanistan wieder halbwegs atmen. Aber davon erfährt man in den hiesigen Leitmedien nichts. Die Macht der Produktivkraftentwicklung wird am Ende auch bei den Taliban die Produktionsverhältnisse und die sozialen und politischen Verhältnisse in Richtung Fortschritt umwälzen. Unübersehbar aber war sogar hierzulande die überraschende »Versöhnungsinitiative Iran-Saudi-Arabien« unter chinesischer diplomatischer Regie.
Seit 2020 gibt es den chinesischen Süd-Süd-Kooperationsfonds, angesiedelt beim UN-»High-Level Political Forum«, ferner einen chinesischen Klimafonds für die ärmsten Länder und seit 2021 (COP 15 in Kunming und Montreal) den chinesischen Kunming-Diversitätsfonds für den globalen Süden.
Die meisten Sonderorganisationen der Vereinten Nationen, vom UN-Umweltprogramm (UNEP) über die Welthandels- und Entwicklungskonferenz (UNCTAD) bis zum Welternährungsprogramm (WFP), organisieren Reisen von Staatspräsidenten, Ministern, Experten und Journalisten nach China, z. B. zu den riesigen neugepflanzten Waldgebieten, die die Wüsten zurückdrängen. Maßnahmen zur Armutsbeseitigung und zur Minderheitenförderung werden von den UN als vorbildlich evaluiert. Letztere wurden von Delegationen begutachtet, vor allem in Xinjiang, und mit viel Lob von den islamischen Staaten bedacht und sogar von der Weltbank, die seit mehr als einem Jahrzehnt die Berufsbildungsoffensive in Xinjiang fördert. Nur westliche Politiker haben die Einladungen nach Xinjiang seit 2017 konsequent ausgeschlagen.
Die Neuen Seidenstraßen (engl. Belt and Road Initiative, BRI) sind laut World Resources Institute (22. März 2022) die »ambitionierteste Infrastruktur-Investitionsanstrengung in der Geschichte«. Die Unternehmensberatung McKinsey (Report 9/2019) charakterisiert die damit verbundenen neuen internationalen Wertschöpfungsketten-, Netzwerk- und lokalen Clusterstrategien als »die nächste Phase der Globalisierung«. Die BRI komme ferner »systematisch und substantiell den Empfängerländern zugute«, in Form von erhöhtem nationalen Anlagekapital, mehr lokaler Beschäftigung, mehr Konsum und SP-Wachstum, Existenzgründungen, mehr Schülern und Studenten (fast eine halbe Million Afrikanerinnen und Afrikaner studiert in China!). Der UN-BRI-Report vom Juni 2021 bezeichnet die BRI als »eine Säule von Entwicklung, Umweltschutz, Integration und Gerechtigkeit«. Die Johns Hopkins University konstatiert: »Chinas Engagement trifft Afrikas Infrastrukturbedürfnisse«; die Carnegie Foundation: »(Die BRI) trägt zur nachhaltigen Bekämpfung von Afrikas Armut bei«; McKinsey: »(Die BRI) bedient die Bedürfnisse der afrikanischen Märkte (…) insgesamt für Afrikas Volkswirtschaften und Arbeitnehmer sehr positiv.« Das australische Lowy Institute: »Chinesische Projekte geben den jungen Ökonomien, was sie brauchen (…), sie lokalisieren ihre Arbeitskräfte (…) China und chinesische Firmen hören auf lokale Bitten und passen sich entsprechend an«; und die Konrad-Adenauer-Stiftung in Afrika (Dakar): »China besitzt in Afrika einen guten Ruf (…) die Medien berichten positiv über Chinas Präsenz.« Repräsentative Befragungen in Afrika (»Afrobarometer«) bestätigen das. Häufigste Begründung: Erstmals spricht man mit uns auf Augenhöhe.
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