Gegründet 1947 Dienstag, 23. April 2024, Nr. 95
Die junge Welt wird von 2767 GenossInnen herausgegeben
Aus: literatur, Beilage der jW vom 16.06.2010

Alles drin

Dietmar Dath spielt durch, was passiert, wenn die oben in Deutschland nicht mehr so regieren wollen wie bisher: Der Spuk wird übermächtig, ist aber bezwingbar
Von Arnold Schölzel
Bild 1

Eine »Mandelbaumiade« hat Dietmar Dath sein Buch »Deutschland macht dicht« im Untertitel genannt. Die sehr spezielle Genrebezeichnung bezieht sich auf einen »kleinen Stoffhasen«, Mandelbaum geheißen, der im ersten Abschnitt von einem übermüdeten Redakteur einer in Frankfurt am Main erscheinenden Zeitung, bei Dath »Erhabene Zeitung« genannt, prophetisch angekündigt wird: »Die ganze Anlage der Stadt und überhaupt Deutschland, das stimmt alles nicht mehr. Und die Sache wird immer schlimmer werden, bis der Stoffhase kommt. Der haut uns vielleicht raus. Könnte ja sein. Man weiß es nicht.«

Um es vorwegzunehmen: Mandelbaum schafft es. Nicht ganz und nicht allein, Stadt und Land werden nicht völlig wiederhergestellt, aber doch weitgehend. Der Hase ist, wie der Autor jüngst bei einer Buchvorstellung in der jW-Ladengalerie anmerkte, das Gegenteil von jenem, der laut einer deutschen umgangssprachlichen Wendung »von nichts weiß«. Mandelbaum weiß alles und stellt sich der Hauptfigur, der 15jährigen Rosalie Vollfenster, mit den Worten vor: »Hallo! Ich bin Mandelbaum, Überblicker des Durcheinanders!« Welches gerade in Deutschland ausbricht. Das Land wird in sich selbst hineingestopft quer durch mehrdimensionale Räume und Zeiten, oft ziemlich blutig – eine Hexe verbeißt sich z. B. in den Nacken Hitlers, um ihn auszusaugen – und so irrational, wie Kapitalismus immer mehr wird. Eine Mandelbaumiade, ließe sich in erster Annäherung sagen, ist ein phantastisches Abbild der real existierenden Bundesrepublik. Eine Regierung von Investmentbankern und gespenstischen Figuren im Kanzleramt ist Spuk, den ein Autor kaum überbieten kann. Surrealismus ist Realismus.

Zuspätkommunist

Dieser Welt entspricht die Surrealität des Weltgeistes Mandelbaum, der das Unheil erkenntnismäßig durchdringt. Beseitigen kann er es nur mit Hilfe von sehr sympathischen Personen, die vielleicht nicht jede Einzelheit kennen, aber über das Ganze ein klares Urteil haben: Es muß verändert werden. Auch das ist ein schwacher Ausdruck für das, was Dath an Verwicklungen, Auflösungen, Zeitverschiebungen und Zurückkommen ins Hier und Jetzt aufbietet. Was er geschehen läßt, kann in marxistisch-leninistischer Prosa auch so formuliert werden: Der Autor setzt sich mit der Rolle des subjektiven Faktors auseinander sowie mit dem Problem von Avantgarde, also mit Partei, Klasse und Massen. Die Mandelbaumiade enthält deutliche Spuren einer Lektüre von Lenins »Was tun?«.

Kostprobe: Nachdem Mandelbaum sich vorgestellt hat und die Hexe Hitler ausschlürft, begegnen Hase und Rosalie einem, »den sie zunächst für Petrus oder den lieben Gott hielt. Er hob seinen Knotenstock und rief: ›Halt! Ich bin der älteste Kommunist Deutschlands!‹ – ›Sehr gut. Damit hatte ich gerechnet‹, freute sich Mandelbaum. – ›Was machst Du hier?‹ fragte Rosalie den Bärtigen. ›Ich komme, fürchte ich, zu spät‹, sagte der. ›Dann bist du also ein Zuspätkommunist‹, sagte Rosalie. So wurden sie Freunde.«

Da in Deutschland von Revolutionen nur geträumt werden kann, läßt Dath eine »Involution«, ein Umkrempeln stattfinden– eine reaktionär-barbarische Veranstaltung, die der amtierende Kanzler von einem Redakteur der »Erhabenen Zeitung« eingeblasen bekam: Bei der Beschreibung hiesiger Machtverhältnisse ist Dath präzise. Das Dichtmachen heißt auf der politischen Ebene: »Abschotten und Aufräumen, erst mal den eigenen Laden in Schuß bringen, und dann sortieren, wer später irgendwann wieder rein kann, den ganzen Handel und Wandel, einerseits Einwanderer, andererseits Export«. Es könnte das gemeinsame Programm von Westerwelle-FDP und Roland-Koch-CDU werden.

Die Geschichte läuft aber aus dem Ruder. Es stellt sich heraus, daß »das Geld«– die Supermacht im Hintergrund – es für eine Anmaßung hält, daß publizistisches und politisches Personal ein derart großes Rad drehen will. Es übernimmt die Chose und macht richtig ernst: Alles, was nicht geldmäßig funktioniert, wird zu- und weggestopft. Damit ist die finale Experiment­anordnung hergestellt: Der Kampf mit der Übermacht kann beginnen.

Tanzende Verhältnisse

Der »älteste Kommunist«, der noch von der Pariser Commune 1871, von den russischen Revolutionen 1905 und 1917 weiß, rekrutiert im Deutschland der Gegenwart »eine traurige Truppe«, wie er feststellt: »Arbeiter waren das hier keine. Vor ihm saßen trist beisammen eine taube Nuß, ein armer Teufel und ein Ausgestoßener.« Ihnen sagt er, »was wir zu tun haben.« Und beginnt mit der Aufforderung zu überlegen, »welche Leute auf der Welt unsereinem am meisten Ärger machen.« Die Antworten fallen vielfältig aus und werden so zusammengefaßt: »Ein bißchen Klassenbewußtsein ist besser als gar keins.« Und der Kommunist erklärt die Welt. Die Herrschaften, die alles dichtgemacht haben, sind zugleich diejenigen, die den Globus als Ganzes haben wollen, »aber das soll dann aus lauter Segmenten bestehen, deren Zugänge und Anschlüsse sie ganz allein regeln.« Ab dieser Interpretation der Welt wird sie verändert. Das »bißchen Klassenbewußtsein« und die eigenen Erfahrungen machen die traurige Truppe zu Ex-tauber-Nuß, Ex-armem-Teufel und Ex-Ausgestoßenem. Es sind blutig ernste Probleme, die Dath mit größter Heiterkeit und literarischer Leichtigkeit vorführt.

Die Verhältnisse tanzen also in der Mandelbaumiade, jedenfalls wird schon mal aufgespielt. Und bevor jene zur Ruhe kommen, nach dem Auftreten von stets übleren Gewaltmaschinen, tapfer sich Wehrenden und dem Kunstwerk »Ohne Titel«, das alles in sich aufnimmt und ähnlich souverän wie Mandelbaum selbst das Ganze begreift, kommt es schließlich noch zum Showdown mit dem Geld, das leibhaftig auftritt wie der Steinerne Gast. Jesus persönlich tritt in Cowboykluft auf und herrscht das Monster an: »›Ich habe dich schon mal aus einem Tempel geprügelt. Erinnerst du dich?‹ drohte der Heiland. ›Ach das‹, lachte das Ungeheuer, ›das war vor zweitausend Jahren! Du ahnst nicht, wieviel stärker ich geworden bin!‹ – ›Mag sein. Aber ich‹, sagte der Cowboy Jesus kühl, ›kann inzwischen Kung-Fu!‹ Mehr mußte nicht geredet werden.« Erfolgreicher Widerstand schließt in der Mandelbaumiade auch den Erlöser ein: Als Kämpfer.

Es wird dann doch noch ein bißchen geredet, z.B.: Als sich alles wieder einigermaßen eingerenkt hat und der Kommunist eine Gewerkschaft prekär Beschäftigter gegründet hat, wird er »von einem kauzigen linken Blättchen« befragt, warum er sich dazu entschlossen habe, auf seine alten Tage noch in die aktive Politik zu gehen. Antwort: »Was soll ich sonst machen, im Keller sitzen und mich übers Fernsehen aufregen?«

So endet das Märchen nicht, der Schluß mit schönem Jungen und jungem Mädchen wird nicht verraten. Die Mandelbaumiade ist ein lustiges Buch, in dem man Arno Schmidt und Peter Hacks, Hegel und Lenin Arm in Arm irgendwo als Mitautoren im Hintergrund vermuten darf. In den »Flüchtlingsgesprächen« ließ Brecht den Physiker Ziffel erklären, Hegels »Wissenschaft der Logik« sei »eines der größten humoristischen Bücher der Weltliteratur«, denn: »Es behandelte die Lebensweise der Begriffe, dieser schlüpfrigen, unstabilen, verantwortungslosen Existenzen; wie sie einander beschimpfen und mit dem Messer bekämpfen und sich dann zusammen zum Abendbrot setzen, als sei nichts gewesen.« Die Mandelbaumiade ist ein Buch über sehr reale Gegensätze, also eines, in dem alles drin ist.

Dietmar Dath: Deutschland macht dicht. Eine Mandelbaumiade. Mit Bildern von Piwi. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 201 Seiten, 17,80 Euro. www.rosalievollfenster.de


Valeska Gert ist eine der einflußreichsten Künstlerinnen der Moderne – was kaum jemand weiß. Damit sich das ändert, hat ihr Wolfgang Müller ein Buch gewidmet (siehe Rezension Seite 12), und wir bebildern unsere Beilage mit ihrem »Gesichtstanz«, den der Fotograf Mark Anstendig dokumentiert hat.

2 Wochen kostenlos testen

Die Grenzen in Europa wurden bereits 1999 durch militärische Gewalt verschoben. Heute wie damals berichtet die Tageszeitung junge Welt über Aufrüstung und mediales Kriegsgetrommel. Kriegstüchtigkeit wird zur neuen Normalität erklärt. Nicht mit uns!

Informieren Sie sich durch die junge Welt: Testen Sie für zwei Wochen die gedruckte Zeitung. Sie bekommen sie kostenlos in Ihren Briefkasten. Das Angebot endet automatisch und muss nicht abbestellt werden.