Eine »Mandelbaumiade« hat Dietmar Dath sein Buch
»Deutschland macht dicht« im Untertitel genannt. Die
sehr spezielle Genrebezeichnung bezieht sich auf einen
»kleinen Stoffhasen«, Mandelbaum geheißen, der im
ersten Abschnitt von einem übermüdeten Redakteur einer in
Frankfurt am Main erscheinenden Zeitung, bei Dath »Erhabene
Zeitung« genannt, prophetisch angekündigt wird:
»Die ganze Anlage der Stadt und überhaupt Deutschland,
das stimmt alles nicht mehr. Und die Sache wird immer schlimmer
werden, bis der Stoffhase kommt. Der haut uns vielleicht raus.
Könnte ja sein. Man weiß es nicht.«
Um es vorwegzunehmen: Mandelbaum schafft es. Nicht ganz und nicht
allein, Stadt und Land werden nicht völlig wiederhergestellt,
aber doch weitgehend. Der Hase ist, wie der Autor jüngst bei
einer Buchvorstellung in der jW-Ladengalerie anmerkte, das Gegenteil von
jenem, der laut einer deutschen umgangssprachlichen Wendung
»von nichts weiß«. Mandelbaum weiß alles
und stellt sich der Hauptfigur, der 15jährigen Rosalie
Vollfenster, mit den Worten vor: »Hallo! Ich bin Mandelbaum,
Überblicker des Durcheinanders!« Welches gerade in
Deutschland ausbricht. Das Land wird in sich selbst hineingestopft
quer durch mehrdimensionale Räume und Zeiten, oft ziemlich
blutig – eine Hexe verbeißt sich z. B. in den Nacken
Hitlers, um ihn auszusaugen – und so irrational, wie
Kapitalismus immer mehr wird. Eine Mandelbaumiade, ließe sich
in erster Annäherung sagen, ist ein phantastisches Abbild der
real existierenden Bundesrepublik. Eine Regierung von
Investmentbankern und gespenstischen Figuren im Kanzleramt ist
Spuk, den ein Autor kaum überbieten kann. Surrealismus ist
Realismus.
Zuspätkommunist
Dieser Welt entspricht die Surrealität des Weltgeistes
Mandelbaum, der das Unheil erkenntnismäßig durchdringt.
Beseitigen kann er es nur mit Hilfe von sehr sympathischen
Personen, die vielleicht nicht jede Einzelheit kennen, aber
über das Ganze ein klares Urteil haben: Es muß
verändert werden. Auch das ist ein schwacher Ausdruck für
das, was Dath an Verwicklungen, Auflösungen,
Zeitverschiebungen und Zurückkommen ins Hier und Jetzt
aufbietet. Was er geschehen läßt, kann in
marxistisch-leninistischer Prosa auch so formuliert werden: Der
Autor setzt sich mit der Rolle des subjektiven Faktors auseinander
sowie mit dem Problem von Avantgarde, also mit Partei, Klasse und
Massen. Die Mandelbaumiade enthält deutliche Spuren einer
Lektüre von Lenins »Was tun?«.
Kostprobe: Nachdem Mandelbaum sich vorgestellt hat und die Hexe
Hitler ausschlürft, begegnen Hase und Rosalie einem,
»den sie zunächst für Petrus oder den lieben Gott
hielt. Er hob seinen Knotenstock und rief: ›Halt! Ich bin
der älteste Kommunist Deutschlands!‹ –
›Sehr gut. Damit hatte ich gerechnet‹, freute sich
Mandelbaum. – ›Was machst Du hier?‹ fragte
Rosalie den Bärtigen. ›Ich komme, fürchte ich, zu
spät‹, sagte der. ›Dann bist du also ein
Zuspätkommunist‹, sagte Rosalie. So wurden sie
Freunde.«
Da in Deutschland von Revolutionen nur geträumt werden kann,
läßt Dath eine »Involution«, ein Umkrempeln
stattfinden– eine reaktionär-barbarische Veranstaltung,
die der amtierende Kanzler von einem Redakteur der »Erhabenen
Zeitung« eingeblasen bekam: Bei der Beschreibung hiesiger
Machtverhältnisse ist Dath präzise. Das Dichtmachen
heißt auf der politischen Ebene: »Abschotten und
Aufräumen, erst mal den eigenen Laden in Schuß bringen,
und dann sortieren, wer später irgendwann wieder rein kann,
den ganzen Handel und Wandel, einerseits Einwanderer, andererseits
Export«. Es könnte das gemeinsame Programm von
Westerwelle-FDP und Roland-Koch-CDU werden.
Die Geschichte läuft aber aus dem Ruder. Es stellt sich
heraus, daß »das Geld«– die Supermacht im
Hintergrund – es für eine Anmaßung hält,
daß publizistisches und politisches Personal ein derart
großes Rad drehen will. Es übernimmt die Chose und macht
richtig ernst: Alles, was nicht geldmäßig funktioniert,
wird zu- und weggestopft. Damit ist die finale
Experimentanordnung hergestellt: Der Kampf mit der
Übermacht kann beginnen.
Tanzende Verhältnisse
Der »älteste Kommunist«, der noch von der Pariser
Commune 1871, von den russischen Revolutionen 1905 und 1917
weiß, rekrutiert im Deutschland der Gegenwart »eine
traurige Truppe«, wie er feststellt: »Arbeiter waren
das hier keine. Vor ihm saßen trist beisammen eine taube
Nuß, ein armer Teufel und ein Ausgestoßener.«
Ihnen sagt er, »was wir zu tun haben.« Und beginnt mit
der Aufforderung zu überlegen, »welche Leute auf der
Welt unsereinem am meisten Ärger machen.« Die Antworten
fallen vielfältig aus und werden so zusammengefaßt:
»Ein bißchen Klassenbewußtsein ist besser als gar
keins.« Und der Kommunist erklärt die Welt. Die
Herrschaften, die alles dichtgemacht haben, sind zugleich
diejenigen, die den Globus als Ganzes haben wollen, »aber das
soll dann aus lauter Segmenten bestehen, deren Zugänge und
Anschlüsse sie ganz allein regeln.« Ab dieser
Interpretation der Welt wird sie verändert. Das
»bißchen Klassenbewußtsein« und die eigenen
Erfahrungen machen die traurige Truppe zu Ex-tauber-Nuß,
Ex-armem-Teufel und Ex-Ausgestoßenem. Es sind blutig ernste
Probleme, die Dath mit größter Heiterkeit und
literarischer Leichtigkeit vorführt.
Die Verhältnisse tanzen also in der Mandelbaumiade, jedenfalls
wird schon mal aufgespielt. Und bevor jene zur Ruhe kommen, nach
dem Auftreten von stets übleren Gewaltmaschinen, tapfer sich
Wehrenden und dem Kunstwerk »Ohne Titel«, das alles in
sich aufnimmt und ähnlich souverän wie Mandelbaum selbst
das Ganze begreift, kommt es schließlich noch zum Showdown
mit dem Geld, das leibhaftig auftritt wie der Steinerne Gast. Jesus
persönlich tritt in Cowboykluft auf und herrscht das Monster
an: »›Ich habe dich schon mal aus einem Tempel
geprügelt. Erinnerst du dich?‹ drohte der Heiland.
›Ach das‹, lachte das Ungeheuer, ›das war vor
zweitausend Jahren! Du ahnst nicht, wieviel stärker ich
geworden bin!‹ – ›Mag sein. Aber ich‹,
sagte der Cowboy Jesus kühl, ›kann inzwischen
Kung-Fu!‹ Mehr mußte nicht geredet werden.«
Erfolgreicher Widerstand schließt in der Mandelbaumiade auch
den Erlöser ein: Als Kämpfer.
Es wird dann doch noch ein bißchen geredet, z.B.: Als sich
alles wieder einigermaßen eingerenkt hat und der Kommunist
eine Gewerkschaft prekär Beschäftigter gegründet
hat, wird er »von einem kauzigen linken Blättchen«
befragt, warum er sich dazu entschlossen habe, auf seine alten Tage
noch in die aktive Politik zu gehen. Antwort: »Was soll ich
sonst machen, im Keller sitzen und mich übers Fernsehen
aufregen?«
So endet das Märchen nicht, der Schluß mit schönem
Jungen und jungem Mädchen wird nicht verraten. Die
Mandelbaumiade ist ein lustiges Buch, in dem man Arno Schmidt und
Peter Hacks, Hegel und Lenin Arm in Arm irgendwo als Mitautoren im
Hintergrund vermuten darf. In den
»Flüchtlingsgesprächen« ließ Brecht den
Physiker Ziffel erklären, Hegels »Wissenschaft der
Logik« sei »eines der größten humoristischen
Bücher der Weltliteratur«, denn: »Es behandelte
die Lebensweise der Begriffe, dieser schlüpfrigen, unstabilen,
verantwortungslosen Existenzen; wie sie einander beschimpfen und
mit dem Messer bekämpfen und sich dann zusammen zum Abendbrot
setzen, als sei nichts gewesen.« Die Mandelbaumiade ist ein
Buch über sehr reale Gegensätze, also eines, in dem alles
drin ist.
Dietmar Dath: Deutschland macht dicht. Eine Mandelbaumiade. Mit
Bildern von Piwi. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010, 201 Seiten, 17,80
Euro. www.rosalievollfenster.de
Valeska Gert ist eine der einflußreichsten
Künstlerinnen der Moderne – was kaum jemand weiß.
Damit sich das ändert, hat ihr Wolfgang Müller ein Buch
gewidmet (siehe Rezension Seite 12), und wir bebildern unsere
Beilage mit ihrem »Gesichtstanz«, den der Fotograf Mark
Anstendig dokumentiert hat.