Verschwörer ohne Ziel
Von Reinhard Lauterbach
Wie nennt man bis heute im Französischen und Deutschen ein kleines Restaurant, in dem man rasch und unkompliziert etwas zu essen bekommen kann? Bistro(t). Das Wort kommt vom russischen Adverb »bystro«, und das heißt »schnell«. Die Legende will, dass die russischen Kosaken, die bei der Verfolgung Napoleons I. 1814 in Paris einzogen, mit diesem Wort auf den Lippen die Pariser Gaststätten heimgesucht hätten.
Es gab aber auch ein Erbe der russischen Präsenz in Paris, das die Offiziere dieser Soldaten mit nach Hause nahmen: die Kenntnis des gegenüber dem seinerzeitigen Russland um mehrere Schritte moderneren bürgerlichen Frankreichs, der Ideen der französischen Aufklärung. Seit der Französischen Revolution hatte die adlige Gesellschaft Russlands mit einer Mischung aus Furcht und Faszination auf die neue Gesellschaft geblickt, die da im fernen Frankreich entstand; die Dialoge und Debatten auf den ersten Seiten von Tolstois »Krieg und Frieden« zeichnen diese Atmosphäre nach.
Für die Offiziere war der »Vaterländische Krieg« von 1812 auch ein persönliches Abenteuer, ein langer Urlaub von der Stagnation und scheinbaren Unveränderbarkeit der russischen Verhältnisse. Zu den neuen Erfahrungen, die die Söhne des russischen Hochadels in Westeuropa machten, gehörte auch, dass eine produktive Landwirtschaft auch ohne Leibeigenschaft funktionierte, und sogar besser als in Russland, wo die kostenlose Zwangsarbeit mit niedriger Arbeitsproduktivität einherging.
Freie Bauern
Der russische Adel aber lebte vom Verkauf der landwirtschaftlichen Erzeugnisse seiner Güter, vor allem von Getreide. Während der durch Napoleon verhängten Kontinentalsperre blieb dieses Getreide weitgehend unverkäuflich. Die ursprüngliche Weigerung Russlands, sich dieser Kontinentalsperre anzuschließen, spiegelte das ökonomische Interesse der russischen Gutsbesitzerklasse und hatte den Anlass für Napoleons Feldzug gegen Russland geboten. Nach dem Sieg über Napoleon fiel die Kontinentalsperre, und die Getreidevorräte der zurückliegenden Jahre drückten auf den Markt, die Preise gingen in den Keller. Manch adliges Landgut kam in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten, die auf Leibeigenschaft gestützte Adelsherrschaft stieß an ihre ökonomischen Grenzen.
Und wenn man, dachten die helleren Köpfe der nachgeborenen Adligen, die Bauern freiließe, so wie es im England der »ursprünglichen Akkumulation« und in Frankreich geschehen war? Die Forderung nach Aufhebung der Leibeigenschaft war der zentrale politische Programmpunkt einer ganzen Reihe adliger Geheimgesellschaften, in denen sich Philanthropie und die Geheimnistuerei der Freimaurer mit dem ökonomischen Interesse der Gutsbesitzerklasse verbanden. Aber die adligen Reformer waren sich im wesentlichen in einem einig: Die Freilassung der Bauern sollte passieren, ohne dass ihnen das von ihnen bearbeitete Land mitgegeben wurde. Das wollten die Adligen schon gern für sich behalten, um zu Agrarkapitalisten aufzusteigen. Es gab Abstufungen: Manche wollten die Bauern aus dem Staatsland abfinden, um den privaten Grundbesitz des Adels zu schonen. Diese Überlegungen wurden auch dem Zaren Alexander I. vorgetragen – aber der winkte ab. Nicht, dass er nicht verstanden hätte, dass die Bauernbefreiung nützlich gewesen wäre, aber er verwies auf die befürchteten politischen Kollateralschäden: Massen von ihrer Subsistenzquelle beraubter Exbauern, denen – anders als in England oder Frankreich – keine bereits aufblühende Industrie gegenüberstand, die diese vielen Arbeitskräfte hätte absorbieren und zu einem industriellen Proletariat hätte umformen können. Deshalb fürchtete Alexander um die politische Stabilität des Landes und ließ alles beim alten.
Erst in dieser Situation ging aus einer um den Erhalt der eigenen Klassenprivilegien bemühten Generation jüngerer Adliger eine kleine – es waren nie mehr als einige hundert Menschen – Schicht von Aktivisten hervor, die auch davor nicht zurückschreckten, die Selbstherrschaft selbst als Zentrale des Widerstands gegen ihre Reformbemühungen zu beseitigen. Das galt jedenfalls für die radikalsten Vertreter dieser adligen Opposition. Sie organisierte sich in Militäreinheiten, die in der heutigen Ukraine in Garnison lagen, als »Südbund« im Unterschied zum »Nordbund«, der in den Salons der Hauptstädte Moskau und St. Petersburg wirkte und sich mit einer konstitutionellen Monarchie zufrieden gab. In programmatischen Dokumenten wie der »Russischen Wahrheit« des Südbunds von 1818 wurden auch Fragen diskutiert, die bis heute auf der verfassungspolitischen Agenda Russlands stehen: etwa die nach dem Umgang mit den nichtrussischen Völkerschaften des Imperiums. Es gab zwei Hauptrichtungen: Der »Südbund« wollte Russland in einen straff zentralistischen Staat verwandeln und als nicht assimilierbar wahrgenommene Minderheiten wie die Juden nach Palästina abschieben; eine Minderheit war dagegen dafür, zumindest einige der nichtrussischen Völker in die Unabhängigkeit zu entlassen.
Die diversen Geheimbünde konspirierten vor sich hin, durchsetzt von Spitzeln, die bis zu zehn Prozent der Mitglieder ausgemacht haben sollen. Zar Alexander I. ließ die jungen Leute gewähren, er war sich anscheinend im klaren darüber, dass eine praktische Gefahr nicht bestand. Dann aber starb er im November 1825 unerwartet, und es stellte sich die Frage seiner Nachfolge. Sein Bruder Konstantin wäre eigentlich in der Rangfolge des Hauses Romanow »dran« gewesen, aber er war nicht interessiert. Er war Generalgouverneur im besetzten Polen, hatte unstandesgemäß eine polnische Adelige geheiratet und schlug schon 1823 gegenüber seinem Bruder die Thronfolge aus. Nun erhob ein zweiter Zarenbruder, Nikolai, Ansprüche auf den Thron. Das Interregnum schien den Verschwörern eine Gelegenheit zu bieten, den Nachfolger auf dem Thron mit ihren Forderungen zu konfrontieren. Am 14. Dezember ließen sie die von ihnen kommandierten Regimenter der Petersburger Garde – insgesamt etwa 3.000 Mann – auf dem Petersburger Senatsplatz antreten und den verlangten Eid auf Nikolai verweigern. Der Aufstand war dilettantisch vorbereitet, er hatte keine klaren Ziele und war unter dem Eindruck der Thronfolgekrise überstürzt ins Werk gesetzt worden. Als die Verschwörer sich weigerten, aufzugeben, ließ der neue Zar ein paar Salven Kartätschen auf die angetretenen Einheiten abfeuern, und der Aufstand, der keiner war, war vorbei.
Literarische Spuren
Die adligen Verschwörer wurden in den kommenden Wochen in rascher Folge verhaftet und im Sommer 1826 in einem Geheimverfahren vor Gericht gestellt. Fünf von ihnen wurden zum Tode verurteilt, eigentlich durch Vierteilung, was vom Zaren als Gnadenakt auf Erhängen ermäßigt wurde. Der große Rest wurde zu lebenslanger Verbannung nach Sibirien verurteilt. Dort wirkten viele von ihnen beim Aufbau einer elementaren Volksbildung mit. In Irkutsk etwa wird bis heute das Haus der Ehefrau des Dekabristen Nikolai Wolkonskij gezeigt, die ihrem Mann gefolgt war und dort eine Volksschule einrichtete. Das Wort »Dekabristka« (Dekabristin) ist im Russischen bis heute geläufig und transportiert Hochachtung für Frauen, die ihre Männer durch dick und dünn begleiten.
Erst 1856 begnadigte der übernächste Zar Alexander II. die überlebenden Dekabristen und erlaubte ihnen, nach Europa zurückzukehren; bis zur Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 – verbunden mit der Verpflichtung, die Gutsbesitzer für die entgangene Zwangsarbeit der Bauern zu entschädigen – vergingen noch fünf weitere Jahre und ein verlorener Krieg, der die Modernisierungsdefizite des Landes schonungslos offengelegt hatte. Das Manifest zur Bauernbefreiung schloss inhaltlich an das Denken der Dekabristen und dessen klassenmäßige Schranken aus den 1820er Jahren an.
Der Aufstandsversuch vom Dezember 1825 war politisch und militärisch ein Fiasko. Trotzdem war er politisch folgenreich. Seine Hauptwirkung war zunächst literarisch: Alexander Puschkin widmete den Verbannten einige seiner schönsten Gedichte. 20 Jahre später nahmen Essayisten und Publizisten wie Alexander Herzen und Nikolai Tschernyschewski das Erbe der »adligen Revolutionäre« (Lenin) auf und entwickelten daraus ihre Thesen von der moralischen Verpflichtung der Intelligenz gegenüber dem »Volk«. Lenin sah in ihnen Vorläufer der Bolschewiki; die Notwendigkeit, konspirativ zu agieren, prägte die bolschewistische Parteitheorie bis hin zu »Was tun?«.
No Quelle today.
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