Geliebtes Leid
Von Fabian Stallknecht
Wie fasst man 165 Jahre Vereinsgeschichte in guten zweieinhalb Stunden zusammen? Geht natürlich gar nicht, oder wie einer der Protagonisten jener Geschichte gesagt hätte: »Es gähd hoid ned!« Diese inzwischen geflügelten Worte stammen, wie jeder weiß-blaue Münchner weiß, vom ehemaligen Präsidenten und Patriarchen des TSV 1860 Karl-Heinz Wildmoser und bezogen sich auf einen möglichen Ausbau des städtischen Grünwalder Stadions, Kultstätte, Heimat und Sehnsuchtsort des Giesinger Traditionsvereins. Und damit sind wir schon mitten drin in der aktuellen, von Lennart Bedford-Strohm, Robert Grantner, Christoph Nahr und Maximilian Stockinger für den Bayerischen Rundfunk produzierten Dokuserie »Rise & Fall of 1860«, denn Wildmoser und die Stadionthematik gehören untrennbar zur jüngeren Vereinsgeschichte.
Natürlich haben sich die Macher dieser vorzüglichen Doku nicht deren Gesamtheit vorgenommen (ein solches Unterfangen wäre selbst für den TSV zu ambitioniert), sondern sich auf einige Brennpunkte seit den frühen 1990er Jahren beschränkt, als der Verein unter der Ägide des besagten Präsidenten Wildmoser und mit Kulttrainer Werner Lorant an der Seitenlinie einen geradezu märchenhaften Aufstieg direkt von der drittklassigen Bayernliga in die Bundesliga und weiter bis in den Europapokal hinlegte, zugleich aber auch die Weichen für den späteren Niedergang stellte. Dieser wiederum erzählt eine Geschichte von Größenwahn und Gier, vom Auszug aus dem kultigen Grünwalder Stadion ins ungeliebte Olympiastadion und später in die noch ungeliebtere Spielstätte, die man weit draußen vor der Stadt in einer idyllischen Mondlandschaft zwischen Autobahn und Mülldeponie gemeinsam mit dem Rivalen aus der Seitenstraße meinte bauen zu müssen; jenem roten Ungetüm, dessen Name im Löwenkosmos nicht genannt werden darf. Auch nach dem Platzen der Blase, der Verhaftung von Wildmoser senior und junior aufgrund von Korruption und dem Abstieg in die zweite Liga ging es kontinuierlich weiter bergab: Inkompetenz, Selbstüberschätzung und Lügen waren an der Tagesordnung, leere Stadionsitze, schleichende Entfremdung zwischen Fans und Vereinsführung und schließlich der Bankrott und 2011 der Einstieg des jordanischen Investors Hassan Ismaik waren die Folge. Der so ruhm- wie traditionsreiche TSV 1860 wurde Spielball eines Finanzhais, der die Seele des Vereins von »Day one« an nicht verstanden hat und ihn nach dem Zweitligaabstieg 2017 mittels Zahlungsverweigerung kaltlächelnd in die Regionalliga abrauschen ließ. Von dort gelang der direkte Aufstieg in die dritte Liga. Gegenwart und Zukunft sind zwar noch immer ungeklärt, aber zumindest nicht mehr hoffnungslos. Im Gegensatz zum 2010 verstorbenen Wildmoser kommt Hasan Ismaik, in Fankreisen auch als »der Scheich« aktenkundig und mit einem persönlichen Schmählied bedacht, in der Doku ausführlich zu Wort und schafft es, sich in einem Satz mindestens so oft selbst zu widersprechen wie der aktuelle US-Präsident.
Überhaupt gelingt es den Autoren, aus einer Vielzahl von Interviews und Statements ein geschlossenes Bild von größtmöglicher Authentizität zu vermitteln. Auf einen allwissenden Kommentator wird dankenswerterweise bewusst verzichtet, dafür schildern viele, die in irgendeiner Form mit dabei waren, ihre ganz persönliche Sicht der Ereignisse: frühere Vereinsfunktionäre und Geschäftsführer, auch prominente Spieler jener Jahre wie Benjamin Lauth, Thomas Miller oder Daniel Bierofka, Journalisten wie der BR-Reporter und bekennende Löwenfan Fritz von Thurn und Taxis oder Philipp Schneider von der Süddeutschen Zeitung. Der frühere Münchner Oberbürgermeister und Aufsichtsrat Christian Ude ist ebenso vertreten wie der populäre Pfarrer Rainer-Maria Schiessler, der langjährige Stadionsprecher und »Stimme der Löwen« Stefan Schneider und der omnipräsente Alfred »Fredi« Heiß, einer der letzten noch lebenden Protagonisten der Meistermannschaft von 1966. Und natürlich zahlreiche Fans verschiedenen Alters und verschiedener Backgrounds mit ihren jeweiligen Erfahrungen, Sehnsüchten und Erinnerungen, die tiefe und gnadenlos ehrliche Einblicke in die vielfach geschundene, aber nie gebrochene Löwenseele preisgeben. Erinnerungen weckt »Rise & Fall of 1860« auf jeden Fall nicht zu knapp bei allen, die diese Ereignisse miterlebt, gefeiert und durchlitten haben, den Autor dieser Zeilen eingeschlossen.
Die bewegenden Bilder aus der Fankurve und den Straßen Giesings, die Ausschnitte von damaligen Originalaufnahmen tun das übrige. Dass aus all diesen individuellen Sichtweisen, Temperamenten, Emotionen am Ende ein erstaunlich geschlossenes Bild entsteht, ist eine der größten Qualitäten dieser durch und durch gelungenen Produktion. Die Autoren haben keine Hagiographie in Weiß und Blau gedreht, wohl aber ein präzises und mitreißendes Porträt eines großen Traditionsvereins. Übrigens lautet der Untertitel »Löwen. Lieben. Leiden.« Besser lässt sich der Kosmos 1860 nicht in drei Worten zusammenfassen.
BR-Dokumentation »Rise & Fall«, Staffel 1, fünf Folgen »Löwen. Lieben. Leiden« zum TSV 1860 München in der ARD-Mediathek
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