Misere der Miserablen
Von Fabian Gomes, São Paulo
Rio de Janeiros Polizei hat am 28. Oktober 117 Verdächtige bei der sogenannten Operation Eindämmung in zwei Favelas im Norden der Stadt getötet. 2.500 Polizeikräfte, Soldaten und Scharfschützen im Einsatz in den Complexos de Penha und do Alemão, wo rund 110.000 Menschen leben. Laut der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte war die Zivil- und Militärpolizei von Rio de Janeiro im vergangenen Jahr am Tod von 703 Menschen beteiligt, zwischen Januar und August 2025 an weiteren 470 Todesfällen. Angeblich geht es immer um Verbrecher, Drogenkriminelle und Geldwäscher, konkret dieses Mal gegen das »Comando Vermelho« (Rotes Kommando). Gegründet 1979 im berüchtigten Gefängnis Cândido Mendes, unter anderem von William da Silva Lima, der 2010 in seinen Memoiren schrieb, die Bedingungen in dem »Höllenkessel« hätten die Gefangenen dazu veranlasst, sich gemeinsam dagegen zu organisieren.
Von Quilombos zu Favelas
Diejenigen, die erschossen wurden, waren vor allem eines: schwarz. Rassistische Ausgrenzung ist in Brasilien kein neues Phänomen. Sie zieht sich seit der Invasion durch die Portugiesen durch die Geschichte des Landes, ein Produkt der Gewalt an Schwarzen und Indigenen, auf der das Land erbaut wurde. Nirgendwohin sonst auf der Welt wurden so viele Afrikaner als Sklaven verschleppt wie nach Brasilien. Deren unbezahlte Arbeit und Unterdrückung machten die Kolonialherren in Europa, aber auch die lokalen Statthalter steinreich. Doch wo Gewalt und Unterdrückung herrschen, entstehen immer auch Widerstandsräume. Seit jeher waren Quilombos – Gemeinschaften entflohener Sklaven – Orte der Selbstorganisation, der Wiederbelebung afrikanischer Kulturen und Religionen, des gegenseitigen Schutzes. An entlegenen Orten – Orte, die die weiße Mehrheitsgesellschaft nicht interessant fand – organisierten Schwarze Gemeinschaften, schufen eine eigene Identität und reparierten mühsam die durch die Barbarei des Sklaventums gebrochene Würde. Seit jeher sind Schwarze in Brasilien gezwungen, auf Entmenschlichung und Unterdrückung mit Selbstorganisation zu reagieren. Favelas sind nur der aktuellste Ausdruck dieser Dynamik.
Rassistische Muster
Wie einst die Bewohner der Quilombos sind die meisten Bewohner der heutigen Favelas schwarz. In einer Gesellschaft, die sie auch 137 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei nicht als gleichwertig ansieht, werden sie zu Rückzugsorten für Menschen, die beim Zugang zu Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, staatlichen Dienstleistungen, Arbeit und Einkommen nach wie vor benachteiligt werden. In mehrheitlich schwarzen Vierteln der brasilianischen Städte – die über die Jahrhunderte oft auch deutlich ärmer gehalten wurden – wird nahezu nichts an öffentlichen Gütern und Dienstleistungen zur Verfügung gestellt.
Um die Auswirkungen zu verstehen, reicht es, sich eine Karte von Rio de Janeiro anzuschauen. Zwei U-Bahn-Linien bedienen die knapp 550.000 mehrheitlich weißen Bewohner der wohlhabenden Südzone, lediglich eine Verlängerung der beiden verbindet auch die afrobrasilianisch geprägte Nordzone – hier leben jedoch mehr als zehn Millionen Menschen. Um rassistisch motivierte Ungleichheit zu schaffen und zu reproduzieren, muss man nicht unbedingt einen Job verwehren. Es reicht, wenn mangelnde Infrastruktur es dieser Person schwer bis unmöglich macht, überhaupt zum Bewerbungsgespräch zu kommen. Dieselben Muster wiederholen sich bei der Gesundheitsversorgung, beim Einkommen und in vielen anderen Bereichen.
Um dem zu begegnen, müssen sich Menschen selbst organisieren. Afrobrasilianern wird es nahezu unmöglich gemacht, irgendwo legal zu wohnen. So werden Siedlungen eben illegal errichtet: Die Favela ist geboren. Weil der Müll dort nicht abgeholt wird, müssen sich die Bewohner diese Dienstleistung selbst organisieren. Weil es ihnen schwer bis unmöglich gemacht wird, halbwegs ordentlich bezahlte Jobs zu finden, müssen sie andere Wege finden, ihr Leben zu finanzieren – legal oder illegal ist egal, wenn die Alternative Obdachlosigkeit und Hunger sind. Es bedeutet auch, Menschen müssen sich und ihre Sicherheit selbst organisieren.
Die Abwesenheit des Staates, Ausgrenzung und die Notwendigkeit, sich selbst zu organisieren, öffnen Tür und Tor nicht nur für illegale Aktivitäten, sondern auch für enorme Profite. Wer in einer Favela Menschen ohne Alternativen Arbeit und ein mageres Einkommen im Drogenhandel verschafft, wird steinreich. Wer Waffen hat, um Sicherheit zu versprechen, kontrolliert auch den Handel. Die Entscheidungen werden woanders getroffen, die Profite fließen ab. Kein Drogenboss, kein Waffenschmuggler, kein erfolgreicher Betrüger lebt in den Favelas. Diese Personen leben in Rio de Janeiros teuren Strandvierteln oder auf Jachten von Miami, manchmal sitzen sie sogar in Parlamenten – von wo aus sie sich an der Misere Hunderttausender bereichern.
Stärke vorgetäuscht
Progressive Regierungen der Vergangenheit und gegenwätige haben das erkannt und versucht, die Wurzel des Problems – Armut und Rassismus – anzugehen. Wirtschaftskrisen, die Pandemie und die rechten Regierungen unter den Präsidenten Michel Temer und Jair Bolsonaro kamen dazwischen. Und so bleiben die Favelas marginalisiert und vernachlässigt und ihre Bewohner müssen weiterhin Wege finden, zu überleben. Statt die Situation zu ändern, täuscht das rechtsregierte Rio Stärke vor, in dem es mit einer Gewalt gegen die Favelas schlägt, die gegen die reichen und wohlhabenden Strippenzieher völlig undenkbar wäre. Versklavung, Armut, Ausgrenzung und brutale Unterdrückung – Gewalt und Kriminalität kommen nicht aus den Favelas, sie kommen in die Favelas. Ein Graffito an einer Mauer in Rio fasst es perfekt zusammen: »Die Bourgeoisie schafft die Misere. Die Polizei tötet die Miserablen.«
Hintergrund: Eine lange Geschichte
Wer über Brasilien redet, ohne Rassismus und Sklaverei zu erwähnen, vergisst – oder unterschlägt – die beiden prägenden Elemente dieses vielschichtigen Landes. Auch die Geschichte der Favelas kann unmöglich ohne Rassismus erklärt werden. Es ist kaum 140 Jahre her, dass Brasilien als letztes Land auf dem amerikanischen Kontinent die Sklaverei offiziell verboten hat. Ihr formales Ende bedeutete aber keineswegs Freiheit im eigentlichen Sinne für die 40 Prozent der insgesamt rund zehn Millionen Versklavten, die Europäer ins heutige Brasilien verschleppt hatten – in keinem anderen Land kamen mehr an. Ein Schlaglicht: 1822 waren 1,5 Millionen Menschen der etwa 3,5 Millionen Einwohner Brasiliens versklavt.
Abgesehen von ihrer formellen Freiheit besaßen die ehemaligen Versklavten nichts – kein Land, keine Ressourcen und definitiv keinen gleichberechtigten Zugang zum Staat, zu Politik und Gesellschaft oder zum Arbeitsmarkt. An Entschädigung war nicht zu denken. Im Gegenteil: Wer Entschädigung forderte, waren die ehemaligen Sklavenhalter. Sie hatten nun ein Heer an Menschen, die nichts besaßen außer ihrer Arbeitskraft. Mit dem Ergebnis, dass sie zwar frei waren, oft jedoch für Kost und Logis auf die gleiche Weise wie zuvor ausgebeutet wurden.
Rio de Janeiro ist von dieser Geschichte ganz besonders geprägt. Ganze zwei Millionen Menschen kamen hier an, nirgendwo sonst in der Welt sind so viele verschleppte Afrikaner als Sklaven von Bord der Schiffe gegangen. Hier entstand auch die erste Favela, eine informelle Siedlung auf einem unwegsamen Hügel im Zentrum der Stadt. In den unregulierten, illegalen Siedlungen garantierte der Staat weder Infrastruktur noch Rechte, Sicherheit, Gesundheit und Bildung. Schnell wurden sie zum Inbegriff der Ausgrenzung – mit Folgen: 53 Prozent der Bevölkerung identifizieren sich als afrobrasilianisch oder Pardo (gemischte Herkunft), die aber zwei Drittel der Inhaftierten und 76 Prozent der ärmsten Bevölkerungsschicht ausmachen.
Brasiliens Favelas sind jedoch viel mehr als Horte der Armut, Ausbeutung und Kriminalität. Allen Widrigkeiten zum Trotz sind sie vor allem eines: zu Hause. Millionen von Brasilianern, die oft vom Staat – mal offen, mal versteckt – vernachlässigt wurden und werden, finden in ihnen Gemeinschaft und einen Ort, an dem sie leben können. Favelas sind die Geburtsstätte all dessen, was wir von Brasilien kennen: Samba und Karneval sind hier zu Hause, Kunst, Kultur, Mode, Musikstile – das schlagende Herz der brasilianischen Kultur. Auf der einen Seite sind Favelas sichtbare Narben von 525 Jahren Unterdrückung, Ausbeutung, Marginalisierung, Rassismus und Menschenhass, auf der anderen Seite sind sie Orte des Widerstands, Orte nicht nur des Überlebens, sondern voller Leben – wenn man sie lässt. (fg)
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