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Aus: Ausgabe vom 06.11.2025, Seite 15 / Betrieb & Gewerkschaft
Stahltarifrunde 2025

Nicht nur Krise der Branche

Stahltarifrunde 2025: Vier Verhandlungen noch während der Friedenspflicht. Abschluss ohne Druckaufbau, aber mit Reallohnverlust
Von Emil Bunke
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Für »grünen« Stahl braucht es noch mehr als einen Elektrohochofen (hier im sächsischen Freital)

Die Tarifrunde 2025 in der Eisen- und Stahlindustrie offenbart eine tiefe Krise – nicht nur in der Branche, sondern auch eine der gewerkschaftlichen Strategie. Unter dem Motto »Jetzt Einkommen, Beschäftigung und Fachkräfte sichern!« trat die IG Metall in die Verhandlungen mit dem Arbeitgeberverband Stahl (AGV Stahl). Doch statt klarer Forderungen und Arbeitskampfmaßnahmen blieb es bei Appellen, Allgemeinplätzen und Verhandlungsrunden ohne Druckaufbau. Nicht einmal eine bezifferte Entgeltforderung wurde erhoben, und auch sonst fehlte es an greifbaren Zielen. Die Folge: Ein Abschluss, der die Reallöhne nicht sichert und die Beschäftigten mit einem Gefühl der Ohnmacht zurücklässt.

Die IG Metall drehte mit der Kapitalseite bereits innerhalb der Friedenspflicht vier Verhandlungsrunden, um noch vor deren Ende zu einem Ergebnis zu kommen. Während der Gespräche gab es viele Appelle an die Sozialpartnerschaft. Aber davon will die Kapitalseite immer nur dann etwas wissen, wenn durch Streiks ihre Profitziele bedroht sind. So auch diesmal: Der AGV Stahl schien schnell zu merken, dass keine ernsten Arbeitskampfmaßnahmen drohten und lehnte sich zurück.

Null Streikstunden

In der ersten Runde betonte der Kapitalverband prompt, dass es aktuell nichts zu verteilen gäbe. In der zweiten Verhandlungsrunde bot er lediglich zwei Einmalzahlungen von je 250 Euro. In der vierten Verhandlung in der Nacht zum 1. Oktober – kurz bevor die Gewerkschaft legal zu Streiks hätte aufrufen können – wurde sich – wie immer »zähneknirschend« – auf ein Ergebnis geeinigt. »Das Tarifergebnis strapaziert die Leistungsfähigkeit unserer Industrie erheblich. Wir sind während der Verhandlung an unsere Grenzen gestoßen. Aber es ist uns gelungen, einen Kompromiss zu finden, der den Unternehmen zumindest eine gewisse Planungssicherheit für das Gesamtjahr 2026 verschafft«, erklärte der Vorsitzende des AGV Stahl, Reiner Blaschek. »Bedauerlicherweise hat es vier Verhandlungsrunden gebraucht, um zu diesem Ergebnis zu kommen. Das Projekt ›Verantwortung für den Stahl‹ wäre fast gescheitert«, so der IG-Metall-Verhandlungsführer für die nordwestdeutsche Stahlindustrie Knut Giesler noch in der Verhandlungsnacht.

Für die knapp 70.000 Beschäftigten der Eisen- und Stahlindustrie im Tarifgebiet Nordwest und Ost bedeutet das Ergebnis letztendlich einen Reallohnverlust: Magere 1,75 Prozent mehr Lohn sowie 75 Euro monatlich mehr für Auszubildende bekommen die Stahlbeschäftigten, bei einer Laufzeit von 15 Monate bis Ende 2026. Ein Tropfen auf den heißen Stahl: Die Teuerungsrate wird vom Statistischen Bundesamt für September 2025 mit 2,4 Prozent angegeben.

Was die Beschäftigungssicherung betrifft, blieb es bei der Verlängerung bestehender Regelungen. Diese erlauben weiterhin flexible Arbeitszeitkonten und die Absenkung der Wochenarbeitszeit bei teilweisem Lohnausgleich – Instrumente, die in kapitalistischen Krisenzeiten und bei unternehmerischem und staatlichem Missmanagement als Puffer dienen, um kurzfristig Entlassungen zu verhindern. Allerdings wird der Großteil der fremdverschuldeten Kosten dennoch auf die Beschäftigten abgewälzt.

Ohne Klassenstandpunkt

Die deutsche Stahlindustrie steht unter Druck: schwankende aber anhaltend hohe Energiekosten, CO₂-Bepreisung, internationale Konkurrenz und hohe US-Zölle führen dazu, dass sich die Stahlproduktion ohne staatliche Unterstützung in Deutschland kaum noch rechnet. Allerdings braucht die Bundesregierung für ihre Aufrüstungs- und Infrastrukturprojekte große Mengen Stahl. Ob dieser Stahl in Deutschland produziert oder aus dem Ausland eingekauft werden soll, ist bisher unklar. Denn eine kohärente industriepolitische Strategie fehlt bislang. Die IG Metall setzt auf Spitzengespräche – etwa beim geplanten Stahlgipfel mit Friedrich Merz diesen Donnerstag im Kanzleramt –, doch ohne politischen Druck von unten bleibt das ein zahmes Unterfangen.

Auch eine politische Diskussion darum, was aus dem Stahl geformt wird – Brücken und Straßenbahnen oder Panzerrohre und Schlachtschiffe – und vor allem, wie eine Kontrolle über die Produktion durchzusetzen ist, findet bisher nur am Rande des gewerkschaftlichen Diskurses statt. Den Rand gilt es zu stärken, und die Debatte sollte offen geführt werden. Aber selbst mit der besten Strategie in der Schublade braucht es die Stärke, diese in den Gewerkschaften und letztlich in den Betrieben durchzusetzen.

Keine offensive Strategie

Die Stahltarifrunde 2025 zeigt exemplarisch, wie sehr sich die gewerkschaftliche Auseinandersetzung in einem Spannungsfeld zwischen dem Glauben an die Sozialpartnerschaft, der Angst vor harten Arbeitskampfmaßnahmen, der Verwischung von Klasseninteressen und politischer Perspektivlosigkeit bewegt. Die IG Metall hat mit dem Abschluss zwar eine Entgeltsteigerung durchgesetzt, die Reallöhne sinken aber dennoch und die Arbeitsplätze bleiben prekär, die Frage nach der Kontrolle über die Produktion wurde nicht einmal gestellt.

Was fehlt, ist eine offensive Strategie, die über das Ritual der Tarifverhandlungen hinausweist. Eine Strategie, die den Erhalt der Industrie mit einer Ausweitung der demokratischen Kontrolle verbindet und die die Profiteure der Krise – von Energiekonzernen bis zu Finanzinvestoren – und nicht die lohnabhängig Beschäftigten zur Kasse bittet. Eine Strategie, die letztendlich die Eigentumsfrage stellt und den Arbeitskampf nicht scheut, sondern ausweitet. Solange diese Perspektive fehlt, bleiben die Auseinandersetzungen in der Stahlindustrie Abwehrkämpfe, die durch das Kapital dominiert werden und nicht zu gewinnen sind.

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