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Aus: Ausgabe vom 06.11.2025, Seite 12 / Thema
»Wildunfälle«

Auf der Strecke geblieben

Die Berichterstattung über sogenannte Wildunfälle ist manipulativ. Der Staat versagt beim Tierschutz
Von Michael Kohler
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Pro Kilometer Straße sterben jährlich mehrere Dutzend Kleintiere wie Füchse. Bei manchen Tieren, etwa Igeln, hat das durchaus starken Einfluss auf die Gesamtpopulation

Ein Foto in der Tageszeitung Die Rheinpfalz vom 25. Oktober 2025 zeigt in der linken Hälfte ein zierliches, erschrocken wirkendes Reh, auf einer Wiese neben der Straße verharrend. Es schaut dem Betrachter mit aufgerichteten und nach vorne gedrehten Lauschern direkt ins Gesicht. In der rechten Bildhälfte unscharf ein Teil vom Heck eines schweren Pkw. Die Bildunterschrift lautet: »Die Gefahr blickt aus großen Augen. Im Herbst müssen Autofahrer verstärkt mit Wildwechsel rechnen.« Wir lernen: Die Gefahr geht nicht etwa vom Auto aus, sondern vom Reh, das möglicherweise dem Auto die Karosserie verbeult.

Immer um diese Jahreszeit, zuweilen nochmals im Frühjahr, bescheren uns die Medien derartige Artikel über sogenannte Wildunfälle. Schon das Wording ist problematisch. Denn Hauptopfer der »Wildunfälle« sind Rehe, die so »wild« ja nun nicht sind. Überhaupt: Pauschal alle Tiere, die dem Menschen nicht als Haus-, Zucht- oder Nutztier dienen, als »Wild« zu bezeichnen, ist und bleibt eine speziesistische, Gewalt legitimierende Diskriminierung.

Die obligaten Artikel gleichen einander verlässlich im Aufbau und in den Formulierungen, sie ähneln sich aber auch hinsichtlich dessen, was sie weglassen. Meist beginnen sie mit dem Hinweis, dass sich Wildunfälle im Herbst und im Frühjahr häufen. Es folgt ein Appell, vorsichtig zu fahren, sowie eine kurze Erläuterung, was im Falle eines Unfalls zu tun ist. Zum Schluss gibt es detaillierte Ausführungen darüber, was alles zu tun und zu beachten ist, um bei Schäden von der Versicherung sein Geld zu bekommen und welche Schwierigkeiten hierbei auftreten könnten. Niemals, und darauf ist Verlass, wird ein Wort darüber verloren, was die Unfälle für die Tiere bedeuten, welches Ausmaß an Schmerzen, Angst und Traumatisierung sie den Tieren zufügen.

Millionen tote Tiere

Der Gesamtverband der Versicherer meldete für das Jahr 2024 mehr als 276.000 Wildunfälle.¹ Das sind fast 770 Kollisionen pro Tag. Dass dabei durchaus erhebliche Schäden entstehen können, wird veranschaulicht mit dem Hinweis, ein 20 Kilogramm schweres Reh habe beim Zusammenstoß mit einem Fahrzeug bei Tempo 100 Kilometer pro Stunde ein Aufschlaggewicht von fast einer halben Tonne. Wie das »Aufschlaggewicht« umgekehrt wirkt, wird nicht gefragt. Die KI errechnet es für uns: Ein VW Golf, das derzeit häufigste Auto auf Deutschlands Straßen, hat bei Tempo 100 Kilometer pro Stunde ein Aufschlaggewicht von 3,6 Tonnen.

Wohl um den Spaß am Rasen nicht ganz zu verderben, wird zumeist dezent verschwiegen, dass die Folgen solcher Kollisionen nicht nur die Autowerkstätten, sondern auch die Krankenhäuser beschäftigen. Wildunfälle fordern allein in Deutschland pro Jahr an die zehn Todesopfer. Hinzu kommen 2.000 bis 3.000 Verletzte.

Die Zahl der getöteten Tiere kann nur geschätzt werden. Keine einzige staatliche Stelle erfasst sie. Das Statistische Bundesamt zählt nur Wildunfälle mit Personenschaden. Das einzige, was tatsächlich erhoben wird, sind die bei den Versicherungen eingehenden Schadensmeldungen. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat fordert seit 2020 eine systematische Erfassung von Wildunfällen, um gezielte Maßnahmen wie Tempolimits zu ermöglichen.² Die Polizei nimmt zwar Daten auf, wertet sie jedoch nicht bundesweit aus, die Daten bleiben auf Landesebene oder auch bei einzelnen Dienststellen. Der Deutsche Jagdverband veröffentlicht jährlich eine Wildunfallstatistik, die sich auf unsystematische Meldungen von Jägern und Verkehrsteilnehmern beruft, ist aber auch auf die Zahlen der Versicherer angewiesen und übernimmt diese. Und auch dem Tierfundkataster stehen nur freiwillige Meldungen von Bürgern, Jägern oder der Polizei zur Verfügung.³ Das Fehlen verlässlicher Daten kritisieren Natur- und Tierschutzverbände immer wieder als Indiz für die Nichtbeachtung des staatlichen, grundgesetzlich festgeschriebenen Tierschutzauftrages.

Die von den Versicherern gemeldeten 276.000 Wildunfälle sind, was die Medien ebenso ausblenden, nur die Spitze des Eisbergs. Fachleute sind sich hierin einig, so etwa die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Tierfundkatasters, einem Projekt, das 2011 vom Landesjagdverband Schleswig-Holstein und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gemeinsam ins Leben gerufen und das 2016 auf ganz Deutschland ausgeweitet wurde. Ein Dunkelfeld ergibt sich bereits dadurch, dass sich die Zahlen der Autoversicherer nur auf kaskoversicherte Fahrzeuge beziehen. Es sind aber in Deutschland nur rund 45 bis 50 Prozent der Fahrzeuge kaskoversichert, 50 bis 55 Prozent verfügen lediglich über die gesetzliche Haftpflichtversicherung.

Wird die Polizei gerufen, stellen die Beamten eine Wildunfallbescheinigung aus, die von den Versicherungen verlangt wird. Eigentlich wären Autofahrer in den meisten Fällen dazu verpflichtet, die Polizei zu rufen, vor allem dann, wenn Menschen zu Schaden kamen oder ein größeres Tier (Reh, Hirsch, Wildschwein usw.) getötet oder verletzt wurde oder wenn das Tier nach dem Zusammenstoß flüchtet. Bei kleineren Tieren (Hase, Fuchs, Vogel usw.) ist keine Meldung erforderlich, es sei denn, es kam zu einem Personenschaden, einem erheblichen Sachschaden oder einer Gefahr für den Verkehr. Die Meldung ist nicht nur wegen der polizeilichen Bescheinigung erforderlich, sondern auch aus Gründen des Tierschutzes und der Verkehrssicherheit. Wer jedoch nur gesetzlich haftpflichtversichert ist, wird es sich überlegen, ob er die Polizei einschaltet. Auch bei kaskoversicherten Autofahrern gibt es eine Menge möglicher Gründe dafür, die Polizei lieber nicht zu rufen. Sei es, weil man nicht weiß, dass man eine solche Bescheinigung für die Versicherung benötigt, oder weil man getrunken hat, offensichtlich zu schnell gefahren ist, unter Schock steht oder ohnehin lieber nichts mit der Polizei zu tun haben will. Damit wird das Dunkelfeld nochmals größer.

Wie zu erwarten, teilen die Autoversicherer mit, dass es sich bei den gemeldeten Fällen fast ausschließlich um große Tiere handelt. Der Deutsche Jagdverband schätzt, sich vor allem auf die Angaben der Versicherungen stützend, die Zahl der getöteten großen Wildtiere in den vergangenen Jahren auf jeweils 250.000 bis 300.000. Nach Mitteilung des Tierfundkatasters ist die Dunkelziffer fünfmal so hoch. Damit läge allein die Anzahl der großen getöteten Tiere bei 1,5 bis 1,8 Millionen jährlich.

Studien aus Österreich und der Schweiz ergaben: Pro Kilometer Straße sterben jährlich mehrere Dutzend Kleintiere wie Dachse, Füchse, Hasen und Igel. Deutschland hat 380.000 Kilometer Straße. Allein die Zahl der überfahrenen Igel beträgt etwa eine halbe Million pro Jahr. Seit 1990 wird in Deutschland beobachtet, dass ihre Population schrumpft. 2024 wurden sie als gefährdete Art eingestuft. Die portugiesische Biologin und Straßenökologin Clara Grilo von der Universität Porto untersuchte mit ihrem Team den »Roadkill« europaweit.⁴ Sie geht davon aus, dass auf Deutschlands Straßen jährlich etwa 19 Millionen Tiere getötet werden, davon drei Millionen Säugetiere und 16 Millionen Vögel.

Beton, Beton, Beton

Wir halten fest: Die Medien sprechen – wenn überhaupt – von einer Viertelmillion Opfern pro Jahr, die Forschung spricht in Übereinstimmung mit Schätzungen durch Fachleute von 19 Millionen. Auf Europas Straßen insgesamt sterben jährlich etwa 223 Millionen Tiere, davon 29 Millionen Säugetiere und 194 Millionen Vögel. Insekten sind noch nicht berücksichtigt, obwohl das gestiegene Verkehrsaufkommen eine Hauptursache des dramatischen Insektensterbens ist.

Dabei nicht berücksichtigt sind die verletzten Tiere. Deren Betrachtung fällt in aller Regel vollständig durch die medialen Maschen. Die Zahlen zu erfassen ist schwierig, da viele Tiere nach dem Unfall flüchten und erst später sterben. Nur für größere Tiere gibt es manchmal eine Nachsuche, aber die meisten verletzten Tiere werden weder gesucht noch versorgt noch gezählt. Vorliegende Schätzungen gehen weit auseinander. Einige Fachleute gehen davon aus, dass die Zahl der verletzten Tiere die der getöteten noch übersteigt, andere meinen, bei einer Kollision mit einem Kfz sterben bis zu 80 Prozent der Tiere sofort oder wenig später. Bei dem oben errechneten Aufschlaggewicht eines Pkw wäre das nicht verwunderlich. Gleichwohl befindet sich die Zahl der auf Deutschlands Straßen verletzten Tiere, soweit bekannt, im siebenstelligen Bereich.

Das Sterben von Millionen Tieren auf den Straßen sollte als Bestandteil des mitleidlosen Krieges gegen die Natur wahrgenommen werden. Die Generäle dieses Krieges sitzen – was Wildunfälle anbetrifft – in den Aufsichtsräten der Auto- und der Logistikbranche, der Öl- und der Tourismusindustrie. Ihre Lobbys sind es, die Tempolimits verhindern.

Ein Hauptgrund für dieses enorme Tiersterben ist der Ausbau des Straßennetzes. Straßen nehmen den Tieren nicht nur Lebensräume weg, sie zerstückeln auch die Biotope. Je mehr Straßen, desto öfter müssen sie von den Tieren überquert werden. Manche nutzen die Straßen auch, um sich fortzubewegen, und geraten dadurch in Gefahr. Die Gesamtlänge des deutschen Straßennetzes betrug 1955 circa 400.000 Kilometer und stieg bis 2024 auf mehr als die doppelte Länge von circa 830.000 Kilometern. Der Ausbau fand überwiegend bis Ende der 1980er Jahre statt. Seitdem verlagert sich die Priorität auf Erhaltung und Sanierung statt auf Neubau. Das gilt leider nicht für Autobahnen. Seit den 1980er Jahren bis heute wurde das Autobahnnetz von etwa 8.000 auf etwa 13.000 Kilometer ausgebaut. Aktuell werden Straßen wieder neu gebaut, nicht aber – wie lange versprochen – das Schienennetz. Eine Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene wäre ein wirkungsvoller Beitrag zur Verminderung von Wildunfällen. 2025 werden fast 9.000 Kilometer Straßen neu gebaut gegenüber ganzen 44 Kilometern Bahnnetz.

Das Tierfundkataster weist darauf hin, dass sich das Verkehrsaufkommen auf Deutschlands Straßen in den vergangenen vier Jahrzehnten verdreifacht hat. Allein die Zahl der gemeldeten Wildunfälle hat sich in diesem Zeitraum verfünffacht. In den Nachkriegsjahren gab es nur wenige tausend Wildunfälle pro Jahr. Bis in die 1970er Jahre stiegen infolge der zunehmenden Motorisierung die Zahlen langsam an. Deren systematische Erfassung entwickelte sich aber erst in den 1980er und 1990er Jahren, in denen durch mehr Autos, bessere Straßen sowie zunehmende Wildpopulationen auch die Unfallzahlen deutlich anstiegen. Schließlich wurden Wildunfälle als ernstes Verkehrs- und Tierschutzproblem erkannt. Etwa ab dem Jahr 2000 kam es dann zu einem dramatischen und anhaltenden Anstieg der (gemeldeten) Fallzahlen. Mit ihnen stiegen übrigens auch der verursachte finanzielle Gesamtschaden sowie die durchschnittlichen Schadensbeträge pro Unfall überproportional an: 2005 mussten die Versicherer insgesamt 400 Millionen Euro für 200.000 Wildunfälle auszahlen. 2024 bezahlten sie bei 276.000 Fällen mehr als 1,1 Milliarden Euro. Der durchschnittliche Schaden pro Unfall betrug 2005 noch circa 2.000 Euro, 2025 bereits circa 4.100 Euro. Dafür ist sowohl die allgemeine Preissteigerung verantwortlich als auch, dass mehr Fahrzeuge mit höherem Wert an den Unfällen beteiligt waren. Bei SUVs und E-Autos fallen höhere Reparaturkosten an.

Brettern ohne Limit

Die vergangenen Jahrzehnte haben also doppelt so viele Straßen, dreimal soviel Verkehrsaufkommen und fünfmal so viele Wildunfälle hervorgebracht. Die überproportionale Zunahme der Wildunfälle kann mit dem größeren Straßennetz und dem höheren Verkehrsaufkommen alleine nicht erklärt werden. Zwei weitere Veränderungen müssen in die Betrachtung einbezogen werden: Es gibt mehr Wild, und die Autos fahren schneller.

In den 1950er Jahren lagen die durchschnittlichen Fahrgeschwindigkeiten auf Landstraßen – auf denen sich die meisten Wildunfälle ereignen – oft unter 60 Kilometer pro Stunde. Sowohl die Fahrzeuge als auch die Straßen gaben nicht mehr her. In den 1970er und 1980er Jahren wurden die Fahrzeuge leistungsstärker und sicherer, Straßen erhielten bessere Beläge und weitere Kurvenradien, was höhere Geschwindigkeiten ermöglichte. Heute lassen sich Daten über Reisegeschwindigkeiten viel genauer und umfassender erheben. Genutzt werden nicht nur Unfallstatistiken und mobile Geschwindigkeitsmessungen, sondern auch sogenannte Telematikdaten, die über GPS-Empfänger und Mobilfunkmodule im Fahrzeug erhoben werden. Diese Daten weisen auf zunehmend enthemmte Geschwindigkeitsräusche hin: Auf Autobahnen werden regelmäßig Geschwindigkeiten von über 140 Kilometern pro Stunde gefahren, besonders nachts und bei geringem Verkehrsaufkommen. Die Durchschnittsgeschwindigkeiten liegen oft deutlich über der Richtgeschwindigkeit von 130 Kilometern pro Stunde. Auf Landstraßen wird das Limit von 100 Kilometern pro Stunde häufig ausgereizt oder überschritten. Erklärt wird die gesteigerte Raserei unter anderem damit, dass mehr Fahrzeuge mit Assistenzsystemen wie Notbremsassistenten und Spurhaltehilfen ausgestattet sind, was zu einem Gefühl von mehr Sicherheit und damit zu höheren Fahrgeschwindigkeiten führen kann.

Als Tierschützer inszeniert

Seit 1945 hat der Wildbestand in deutschen Wäldern deutlich zugenommen, besonders bei Rehwild, Rotwild und Schwarzwild. Es erscheint logisch, dass diese Arten auch die vordersten Plätze der Unfallstatistiken belegen. Paradox wirkt jedoch die Tatsache, dass es sich gleichzeitig auch um die Arten handelt, die am liebsten gejagt werden. Noch paradoxer ist der Umstand, dass gleichzeitig mit der Zunahme der Tierbestände und auch der Wildunfälle die Zahl der Hobbyjäger geradezu explodiert ist. Anfang der 1990er Jahre gab es in Deutschland mit 320.000 Jagdscheininhabern – von denen weniger als 0,5 Prozent Berufsjäger sind – bereits ausgesprochen viele Hobbyjäger. Bis 2024 wuchs die Zahl auf unglaubliche 461.000 an. Wir haben damit mehr als doppelt so viele Hobbyjäger wie Soldatinnen und Soldaten (182.000). Diese knappe halbe Million Hobbyjäger erlegt mehr als fünf Millionen Tiere pro Jahr, darunter circa 50.000 Hunde und 100.000 Katzen. Wenn sie bestens bewaffnet durch deutsche Wälder streifen, wissen sie seit eh und je eine mächtige Lobby hinter sich. Sie hilft dabei, dass diese Schattenarmee auch was vor die Flinte bekommt. Wildunfälle mindern das Reservoir ihrer potentiellen Beutetiere. Wenn Jäger sich gegen diese Unfälle engagieren, schlagen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Sie beseitigen Konkurrenz und können sich als Tierschützer darstellen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch die Tierschutzstory als Jägerlatein der zynischen Art.

Deutschlands wohl bekanntester Förster Peter Wohlleben formuliert schon seit vielen Jahren seine Kritik an der Jagd. Heute, so erklärt er, gehe es bei der Jagd überhaupt nicht mehr, wie behauptet, um das Fleisch, sondern um Trophäen. Um aber nur einmal im Jahr einen kapitalen Hirsch oder einen Rehbock schießen zu können, braucht ein Jäger in seinem Revier einen Grundbestand von 100 Tieren. In einem Jagdrevier durchschnittlicher Größe kämen unter natürlichen Verhältnissen einige Rehe vor, Hirsche und Wildschweine wären die absolute Ausnahme. Deshalb werden Bestände durch Fütterungen und Verschonen der weiblichen Tiere kontinuierlich gesteigert. Gab es früher ein Reh pro Quadratkilometer Wald, so sind es heute durchschnittlich 50. Weil dies den Jägern immer noch nicht genug Beute ist, werden weitere Arten angesiedelt, vor allem solche, die ein attraktives Geweih tragen, wie zum Beispiel Damhirsche. Jagdverbände behaupten, die Bejagung würde Wildunfällen vorbeugen. Aber das genaue Gegenteil trifft zu. Die Jäger sind verantwortlich für wachsende Populationen, auch durch den Stress, den Jagden auslösen, denn der führt zu einer Steigerung der Reproduktionsrate.

Die obligaten Presseberichte empfehlen, im Wald und an Feldrändern besonders aufmerksam und vorsichtig zu fahren. Diese Empfehlung ist sicherlich nicht falsch, und es schadet auch nicht, sie regelmäßig zu wiederholen. Sich aber auf Appelle an Autofahrer zu beschränken, ist zuwenig. Denn es bedeutet, elementare Grundsätze der Unfallprävention zu ignorieren und zudem alle seit langem entwickelten, erprobten und wissenschaftlich untersuchten Präventionsmethoden zu verschweigen.⁵

In der Unfallprävention werden primäre, sekundäre und tertiäre Maßnahmen unterschieden. Primäre Maßnahmen sollen Unfälle verhindern, bevor sie passieren. Sekundäre sollen Risiken früh erkennen und schwere unmittelbare Folgen verhindern. Tertiäre sollen Folgeschäden minimieren und Wiederholungen verhindern. Jede und jeder Sicherheitsbeauftragte weiß, dass eine gute Unfallprävention die drei Bereiche je nach Kontext miteinander zu kombinieren hat. Dabei gilt es, bestimmte Grundsätze der Priorisierung zu beachten. Beispielsweise haben Maßnahmen gegen tödliche oder schwerwiegende Unfälle Vorrang. Die höchste Priorität innerhalb der primären Prävention haben Maßnahmen der verhaltensunabhängigen Prävention. Auf deutsch: Die Umgebung sollte möglichst so gestaltet sein, dass Unfälle gar nicht passieren können, auch wenn die Menschen nicht alles richtig machen. Beispiel: Wenn auf einer glatten Treppe eine Rutschgefahr besteht, sollte sie mit einem rutschhemmenden Belag versehen werden. Selbstverständlich sollte man die Menschen auch zur Vorsicht auffordern. Das Anbringen des rutschhemmenden Belages genießt aber die höchste Priorität und darf auf keinen Fall durch die Ermahnung ersetzt werden. Dieser wahrscheinlich wichtigste und effektivste Grundsatz der Unfallprävention ist es, gegen den hinsichtlich der Wildunfälle von allen Beteiligten (Politik, Verbände, Medien) verstoßen wird.

Runter vom Gas

Die wirksamste Maßnahme der primären Prävention liegt auf der Hand und ist empirisch bestens belegt: ein Tempolimit, zumindest an den bekannten Hotspots. Außerdem helfen Warnschilder und dynamische Wildwarnanzeigen, Zäune, Tunnel und Grünbrücken. Tempolimits sind absolut unerlässlich. Nur mit angepassten Geschwindigkeiten können Wildunfälle verhindert werden. Tempolimits verkürzen Bremswege, mindern Unfallfolgen, besonders in der Dämmerung und an bekannten Wildwechselstellen sind sie hochwirksam, so sie denn eingehalten werden. Untersuchungen zeigen jedoch, dass in wildreichen Regionen und an wohlbekannten Hotspots selten Tempolimits ausgeschildert sind. Auch Geschwindigkeitskontrollen finden laut Polizeiberichten oft nicht an Wildunfallhotspots statt, sondern an »einnahmestarken« Stellen.

Auch Zäune, Tunnel und Grünbrücken, die die Tiere von der Straße abhalten oder ihnen alternative Wege bieten, haben ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt. Tierschutzorganisationen berichten allerdings oft von jahre- oder jahrzehntelangen Kämpfen, bis solche Maßnahmen realisiert sind. Dynamische Wildwarnanzeigen, die über Sensorik und intelligente Steuerung verfügen, konnten ebenfalls in Studien eine signifikante Reduktion von Wildunfällen erbringen. Sie werden in Bayern und Sachsen seit 2020 mit Erfolg getestet, Pilotprojekte gibt es auch in Österreich und der Schweiz.

Anmerkungen

1 https://www.gdv.de/gdv/medien/medieninformationen/wildunfaelle-die-unterschaetzte-gefahr-182556

2 https://www.dvr.de/ueber-uns/positionen-des-dvr/beschluesse/vermeidung-von-wildunfaellen

3 https://www.tierfund-kataster.de

4 https://esajournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/fee.2216

5 Vgl. https://www.waldwissen.net/de/lebensraum-wald/wald-und-wild/wildtiermanagement/wildunfallwahrscheinlichkeit

Michael Kohler schrieb an dieser Stelle zuletzt am 17. September 2024 über das Attentat von Solingen: »Ein Messer wetzt das andere«

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  • Leserbrief von Rayan aus Unterschleißheim (8. November 2025 um 15:34 Uhr)
    Danke für das Beleuchten der Machenschaften der (Hobby-) Tiermörder, die typischen Verzerrungen und Auslassungen der Medien und die insgesamt sehr umfangreiche Richtigstellung der Perspektiven. Besonders gefreut hat mich der Hinweis auf die speziesistische Sprache, die es Menschen erleichtert, ihr Unrecht zu begehen, das von ihnen verursachte, unsägliche Leid zu verdrängen. Auch wenn der Satz selbst etwas unglücklich formuliert ist, denn z. B. ist auch die Bezeichnung als »Nutztiere« eine solch speziesistische und in der Wirkung quantitativ wie qualitativ noch um ein Vielfaches übler.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Toralf K. (6. November 2025 um 20:40 Uhr)
    Selbstverständlich war mit diesem Jägerlatein in den Leserbriefen zu rechnen. Wer mit Präzisionswaffen auf wehrlose Tiere in der Natur schießt, muss dafür einen nachvollziehbaren Grund für sich und seine Mitmenschen konstruieren. Sonst wäre er ja so wertlos und gefährlich wie Lustmörder nun einmal sind. Ich danke dem Autor von ganzem Herzen für seinen sachlichen Artikel. Bei dieser ungeheueren Anzahl von Hobbyjägern in Deutschland sind natürlich auch etliche in hiesiger Leserschaft zu erwarten gewesen. Krieg gegen die Natur gehört leider auch zum sozialistischen Gedankengut. Tiere werden auch hier von Gerechtigkeit, Frieden und Mitgefühl ausgeklammert. Ganz so hatte sich das Karl Marx nicht gedacht. Aber auch die Bibel wurde schließlich den Befindlichkeiten der herrschenden Meinung angepasst.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Enrico M. (6. November 2025 um 12:09 Uhr)
    Zum Lamento von Michael Kohler einige Anmerkungen. 1. Der Begriff »Wild« wird hilfreich differenzierend für den Umstand freilebender, ungezähmter Tiere, eben Wildtiere, verwendet. Das macht insofern Sinn, weil es ein artgerechtes Verhalten impliziert. Jagdwild ist dabei der Unterbegriff für jagdbare Wildtiere, zu denen dann z.B. Federwild, Raubwild oder Schalenwild (z.B. Rehe) gehören. Wie »wild« Rehe nach dieser Definition sind, zeigt sich z.B. daran, dass es auf der Welt keinen Tierpark mit einem Gatter für Rehe gibt, geben kann (für Wölfe schon). 2. Die Tatsache eines sich erholenden Wildbestandes nach dem Zweiten Weltkrieg mit einhergehender Wiederaufnahme der Wildhege und Erhöhung der Jungjägerzahl kann nicht sinnvoll mit dem aufregenden Begriff »paradox«, also unerwartet und widersprüchlich, verknüpft werden. 3. Wir Jäger hätten »eine mächtige Lobby« hinter uns? Im Gegenteil. Das Bundes- und die Länderjagdgesetze erleben eine beispiellose Novellierung unter dem Motto »Wald vor Wild« im Zuge eines klimastabilen Waldumbaus bzw. der Nutzung vom Forst als Holzfabrik. Proteste der Jägerschaft sind so zahlreich wie offenbar unbekannt. 4. Die Dammwildeinbürgerung in Deutschland begann 1577 und war spätestens im 18 Jhd. abgeschlossen. 5. Bezüglich zuträglicher Wilddichte und deren Regulierung siehe z.B. den Doyen von Waldbau und Jagdwissenschaft in der DDR, Prof. Egon Wagenknecht, »Schalenwild« 1978 VEB DLV S. 15 ff. Das gilt auch heute noch. Ein Reh (früher) oder 50 (heute) Rehe pro 100 ha, »Wildschweine (…) die Ausnahme« etc. sind Karl-May-Märchen. Vermutlich Verwechslung mit Damwild. 6. Die jüngste Jagdstrecke in Deutschland allein für Reh, Schwein, Fuchs betrug 1,3 Mill., 550.000, 440.000 (statista). Nach ökologischen Kriterien ist das ein Beitrag zum Naturschutz und von Berufsjäger allein nicht leistbar. Auch im KI-Zeitalter bleibt die Jagd neben ihrem gesellschaftlichen Nutzen für viele Menschen (natürlich je nach Neigung) eine wehmütige Erinnerung an ihre Wurzeln und Erholung vom Auto.
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (5. November 2025 um 21:15 Uhr)
    Wie wäre es denn, wenn Bär, Wolf und Luchs den Jägern bei der Eindämmung des ausufernden Rot- und Schwarzwildes hülfen? Das Aufschlaggewicht eines Bären ist proportional zu einem Reh und gleicher Geschwindigkeit zehnmal (Bärenweibchen) und zwanzigmal (Bärenmännchen) höher. Andererseits geht das Aufschlaggewicht mit dem Quadrat der Aufschlaggeschwindigkeit nach oben oder unten. Wenn man also die Fahrgeschwindigkeit auf zweiundzwanzigkommazwei statt hundert Kilometer pro Stunde reduziert, ist der Schaden durch Zusammenstoß mit einem Bären (400kg) am Auto nicht größer, als mit einem Reh (20kg) bei hundert km/h. Mein Vorschlag: Allgemeine Begrenzung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf allen Straßen auf 22 km/h. Das würde auch die Konkurrenz der verschiedenen Verkehrsmittel (Fahrrad, Marathonläuferin, Akkuroller, Tretroller, Auto, Bus, Bahn … ) drastisch verschärfen und zur Work-Life-Balance eines großen Teils der Bevölkerung beitragen.