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Aus: Ausgabe vom 05.11.2025, Seite 6 / Ausland
Frankreich

Rechte Mehrheit mit Symbolkraft

Frankreich: Nationalversammlung stimmt gegen Vertrag mit Algerien
Von Bernard Schmid, Paris
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Die Ultrarechte triumphiert: Die Abstimmung über den Vertrag mit Algerien wurde knapp gewonnen (Paris, 28.10.2025)

Am Ende reichte eine einzelne Stimme. Hätte ein Parlamentsmitglied der Zentrumsparteien oder der Linken mehr seine Stimme abgegeben, dann wäre die extreme Rechte Frankreichs nicht durchgekommen. So aber konnte sie einen symbolpolitisch wichtigen Sieg an einer absolut zentralen Stelle einfahren, mit 185 gegen 184 der abgegebenen Stimmen. Denn bei dem Abstimmungssieg der von Marine Le Pen geführten Parlamentsfraktion des Rassemblement National (RN) in der französischen Nationalversammlung vom vorigen Donnerstag, der auch Tage danach noch weite Teile der französischen Presse bewegt, ging es nicht um Porto- oder Parkplatzgebühren oder technische Details einer obskuren Verordnung über die Abfassung von Gebrauchsanleitungen. Es ging um Einwanderung, es ging um Algerien: Auf der Behauptung aufbauend, Algeriern werde es in Frankreich »dermaßen einfach gemacht«, forderte die französische Nationalversammlung mit knapper Mehrheit die Aufkündigung eines bilateralen Vertrags mit dem nordafrikanischen Land.

Allein der Name Algeriens, das sich nach einem blutigen Kolonialkrieg in den Jahren 1954 bis 1962 von der Kolonialmacht Frankreich befreien konnte, bleibt in rechten Kreisen ein Reizwort. Lügen über Algerier wurden in den vergangenen Jahren nicht allein von Faschisten in den Reihen des RN, sondern auch in denen der Konservativen munter verbreitet. Gegenstand der Kampagne war und ist es, zu behaupten, Algerier seien besonders »privilegierte« Einwanderer. In dieser Darstellung stehen ihnen alle Türen des Landes ebenso wie der Zugang zu dort zu beantragenden Sozialleistungen scheunentorweit offen. Nichts daran ist richtig. Einzig zutreffend ist, dass das bilaterale Abkommen zwischen Paris und Algier vom 27. Dezember 1968 Sonderregelungen gegenüber dem allgemeinen Ausländerrecht enthält. Letzteres ist derzeit in dem Gesetzbuch CESEDA, das ist die Abkürzung für »Gesetzescode über die Einwanderung und den Aufenthalt von Ausländern und das Asylrecht«, geregelt. Die Bestimmungen des bilateralen Abkommens, das dreimal neu ausgehandelt und umgeschrieben wurde – 1985, 1994 und 2001 –, weichen tatsächlich von denen des CESEDA ab und werden auf algerische Staatsangehörige angewandt. Aber, anders als es in diversen rechten Kampagnen dargestellt worden ist, keineswegs systematisch zugunsten der Nordafrikaner.

In vielen Punkten fällt der Inhalt der bilateralen Vereinbarungen ungünstiger für die Algerier aus als das sonstige Ausländerrecht. So enthält der Staatsvertrag keine Regelung für einen Aufenthaltstitel für die Übergangszeit zwischen Studium und Beruf: Nach dem Ende eines Studiums müssen die Betreffenden algerischer Nationalität oft ihren Aufenthalt abbrechen, im Gegensatz zu Studierenden anderer Nationalitäten, die leichter zum Aufenthaltsstatus als »qualifizierter Arbeitnehmer« überwechseln können. Oder es heißt für sie, ein Arbeitsvisum bei den französischen Konsulaten in Algerien zu beantragen – das sie dann nicht bekommen. Einzig für algerische Selbständige und Freiberufler ist der Übergang zu einem neuen Aufenthaltsrecht nach absolviertem Studium relativ einfach.

Symbolisch kommt die Abstimmung in etwa einem Votum im türkischen Parlament gegen Armenien oder der Annahme einer geschichtsrevisionistischen Resolution gegen Polen im Bundestag gleich. Dem Verlangen des Parlaments kann Staatspräsident Emmanuel ­Macron, der Frankreich außenpolitisch repräsentiert, nachkommen oder nicht: Das Votum ist für ihn nicht bindend. Den Antrag zu der Abstimmung hatte der RN eingebracht. Zum ersten Mal in der Geschichte der 1958 begründeten Fünften Republik stimmte daraufhin eine Mehrheit der Abgeordneten einem Antrag, der von der extremen Rechten kam, ausdrücklich zu. Vor allem die Stimmen einer Mehrheit der Abgeordneten der konservativen Partei Les Républicains (LR) von Bruno Rétailleau, aber auch der rechtsliberalen Formation Horizons von Expremierminister Édouard Philippe gaben dabei den Ausschlag. Viele sehen im Ausgang der Abstimmung daher eine Vorausschau auf zukünftige Verhältnisse.

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