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Aus: Ausgabe vom 03.11.2025, Seite 15 / Politisches Buch
Marxistische Debatte

Nichtkapitalistische Räume

Der Kapitalismus und die notwendige Peripherie: Utsa und Prabhat Patnaik über den Imperialismus
Von Klaus Müller
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Die »äußeren Grenzen«: Ein Slum neben dem internationalen Flughafen der indischen Metropole Mumbai (8.5.2022)

Die indischen Ökonomen Utsa und Prabhat Patnaik bekräftigen in ihrem neuen Werk Grundgedanken, die sie bereits im vor zwei Jahren gleichfalls im Mangroven-Verlag erschienenen Buch »Theorie des Imperialismus« geäußert hatten. In sieben Abschnitten, die sich in 21 Kapitel gliedern, behandeln die Autoren auf über 400 Seiten, empirisch-historisch fundiert, Kernfragen der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Metropolen und den Kolonien. Die Untersuchung erstreckt sich über frühe koloniale Bestrebungen, den Kolonialismus vor dem Ersten Weltkrieg, den Zusammenbruch des Kolonialsystems im 20. Jahrhundert – die Auflösung des kolonialen Arrangements habe die kapitalistische Weltwirtschaft in die große Depression gestürzt, so eine These – bis hin zu neokolonialen Bemühungen der Gegenwart. Ein nützliches Personen- und Sachregister hilft dem Leser, sich zu orientieren.

Die Autoren blicken auf den Kapitalismus aus der Sicht der unterentwickelten Länder. Sie bemängeln, dass die »großen« Vertreter des Fachs die ökonomische Wissenschaft ausschließlich aus der Perspektive der Metropolen entwickelt haben. Für Marx wäre die Aussage etwas zu relativieren. Immerhin hatte er sich im ersten »Kapital«-Band auch mit dem Kolonialproblem befasst, wenn auch nicht umfassend und besonders gründlich. Es war ihm nicht gelungen, den ursprünglichen Plan einer systematischen Analyse des Weltmarktes zu verwirklichen. Und Lenin hatte im »Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus« festgestellt: »Der Kapitalismus war zu einem Weltsystem kolonialer Unterdrückung und finanzieller Erdrosselung der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung der Erde durch eine Handvoll fortgeschrittener Länder geworden.«

Utsa und Prabhat Patnaik bestätigen das Urteil, setzen aber auch andere, nicht nur neue Akzente – Rosa Luxemburg hatte zwar keine gleichen, aber ähnliche Auffassungen wie die, die sie vertreten. Sie betonen, es sei falsch, den Kapitalismus als ein in sich geschlossenes, autarkes System zu begreifen. Der Kapitalismus sei nur lebensfähig, solange er in ein vorkapitalistisches Umfeld eingebettet ist. Als isolierter Sektor, bestehend nur aus Kapitalisten und Arbeitern, müsste er im stationären Zustand der einfachen Reproduktion verharren, könnte nicht wachsen und sich nicht entfalten. Oder er würde eine geldwertvernichtende Akkumulation auslösen. Eine Geldentwertung aber wiederum könne er nicht zulassen, und er versuche aus diesem Grund, sie zu verhindern, indem er in den Entwicklungsländern eine Verringerung der Einkommen erzwingt – Einkommensdeflation, sagen die Autoren –, die Nachfrage dort einschränkt und den Kleinproduzenten und der arbeitenden Bevölkerung in der »Peripherie« des kapitalistischen Weltsystems harte ökonomische Lasten aufbürdet.

Reichtumsabzug (Drain) und Deindustrialisierung in den Ländern der »dritten Welt« führten zu wachsender Armut, Erwerbslosigkeit und sozialer Ungleichheit. Koloniale Ausbeutung und die Kapitalakkumulation mehrten zugleich den Reichtum in den Metropolen. Das sei der Kern des Imperialismus, so die Autoren, die damit ein wesentliches Merkmal imperialistischer Ausbeutung in den Fokus rücken, es logisch schlüssig und empirisch solide gestützt begründen, exemplarisch vor allem an den Beziehungen zwischen Großbritannien und Indien. Der Kapitalismus sei von Anfang an Imperialismus gewesen. Ohne Kolonialismus und die Nutzung nichtkapitalistischer, äußerer Räume hätte es ihn nicht gegeben. Utsa und Prabhat Patnaik behaupten, zwischen einem Kapitalismus der freien Konkurrenz und einem Monopolkapitalismus ließe sich analytisch nicht überzeugend unterscheiden. Kapitalisten hätten immer, von Anfang an und überall, Absprachen getroffen, also Monopole gebildet.

Das Buch der indischen Autoren bietet alte und neue Sichten auf die Beziehungen zwischen den kapitalistischen Metropolen und den abhängigen Ländern der »dritten Welt«. Die Auffassung, dass der Kapitalismus ohne Kolonialismus lebensunfähig und ohne Wachstumspotential sei, wie sie sie vertreten, muss man nicht teilen, gewiss aber ist, dass die koloniale Ausbeutung sich als eine bedeutsame Stütze der kapitalistischen Entwicklung erwiesen hat. Den Autoren gebührt das Verdienst, durch originelle Überlegungen und empirische Ermittlungen einen lesenswerten Beitrag zur Klärung der Frage geliefert zu haben, wie der Imperialismus funktioniert. Ihrer Schlussfolgerung muss zugestimmt werden: Die neokoloniale Ausbeutung zu beenden, erfordert, die Hegemonie des internationalen Finanzkapitals zu brechen, also den Kapitalismus zu überwinden.

Utsa und Prabhat Patnaik: Kapital und Imperialismus. Theorie, Geschichte und Gegenwart. Mangroven, Kassel 2025, 439 Seiten, 27 Euro

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