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Aus: Ausgabe vom 30.10.2025, Seite 10 / Feuilleton
Literatur

Ein Jahr frei

Rund zehn Jahre nach dem Tod von Harper Lee, die mit »Wer die Nachtigall stört« weltberühmt wurde, gibt ein Buch mit bisher unveröffentlichten Erzählungen neue Einblicke in Leben und Schreiben der US-Schriftstellerin. Das kurz nach der englischen Originalausgabe nun auch auf Deutsch erschienene Werk »Das Land der süßen Ewigkeit« kombiniert acht Kurzgeschichten mit acht Essays und weiteren kurzen Werken.

Lee war lange vor allem für einen Roman bekannt – das 1960 veröffentlichte Werk »Wer die Nachtigall stört«, ein Pulitzerpreis-gekrönter Weltbestseller, der auch erfolgreich verfilmt und auf den Broadway gebracht wurde. Bis heute ist der Roman über den weisen Rechtsanwalt Atticus, der einen zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigten Afroamerikaner verteidigt und dabei sowohl seinen Kindern Jem und Scout als auch einem ganzen Land eine Lektion in Toleranz, Nächstenliebe und Menschenrechten erteilt, in vielen Schulen Standardlektüre und gehört zu den meistgelesenen Büchern aller Zeiten.

Die Autorin aber hatte sich mit zunehmendem Erfolg ihres Romans mehr und mehr zurückgezogen, von New York schließlich an ihrem Geburtsort Monroeville im US-Bundesstaat Alabama, wo sie im Februar 2016 starb. Kurz zuvor war doch noch ein zweiter Roman erschienen: »Geh hin, stelle einen Wächter«, ein wiederentdecktes erstes Manuskript für »Wer die Nachtigall stört«.

Auch die nun veröffentlichten Erzählungen arbeiten auf »Wer die Nachtigall stört« hin: Lee arbeitet darin deutlich an den Figuren und Geschichten, die später in dem Roman Platz finden. Noch sind sie nicht so ausgefeilt und einprägsam, aber die Kurzgeschichten geben einen spannenden Einblick in das Schaffen der Schriftstellerin – und machen deutlich, was für ein extrem langer, durchdachter und arbeitsreicher Prozess die Entstehung von »Wer die Nachtigall stört« war.

Hilfe bekam sie dabei vor allem auch von einem befreundeten Ehepaar, wie die Autorin Casey Cep in der Einleitung schreibt. Sie machten Lee, die ihr Dasein als Schriftstellerin in New York anfangs immer mit anderen Jobs finanzieren musste, eines Jahres zu Weihnachten ein ganz besonderes Geschenk: »Du hast ein Jahr frei von deinem Job, um zu schreiben, was immer du möchtest. Frohe Weihnachten«, hieß es auf ihrer Karte – und dann gaben sie Lee ein Jahr lang monatlich eine Summe, die ihr zum Leben reichte, so dass sie sich auf das Schreiben von »Wer die Nachtigall stört« konzentrieren konnte. (dpa/jW)

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