Wolkenwirtschaft
Von Peter Schadt
Der Kapitalismus ist tot – die Digitalisierung hat ihn umgebracht. So lautet zumindest die zentrale These von Yanis Varoufakis, dem ehemaligen griechischen Finanzminister und Professor für Ökonomie an der Universität Athen. Neben mehreren Aufsätzen hat er sie vor allem in seinem im vergangenen Jahr auf Deutsch übersetzten Buch »Technofeudalismus. Was den Kapitalismus tötete«¹ ausgeführt. Das »Cloud-Kapital«, nur einer der vielen Neologismen im Buch, habe Märkte und Profite als »Säulen des Kapitalismus« (S. 11) verdrängt. Die digitalen Handelsplattformen wären besser als Lehensgüter zu verstehen, denn als Märkte, und der Profit sei durch »seinen feudalen Vorläufer ersetzt: Die Rente (…). Ich nenne sie Cloud-Rente« (ebd.).
Aufmerksamkeitsmärkte …
Mit Cloud-Kapital benennt Varoufakis jene Konzerne, die bekannter unter das Label »Big Tech« gefasst werden, das er selbst ab und an synonym benutzt. Die sind für den »liberalen Marxisten« (34) die Nachfolger von den »Machern von Radio und Fernsehen« (51), die damals erkannten, dass »nicht das Programm die Ware war«, sondern »die Aufmerksamkeit der Zuschauerinnen und Zuschauer« (ebd.). Diese Auskunft, die Varoufakis mit einer weiteren Wortneuschöpfung als »Aufmerksamkeitsmärkte« bezeichnet, zielt darauf ab, dass das Geschäftsmodell ebendieser auf Werbung basiert.
Und es wird schon so sein, dass Werbeeinnahmen den Profit dieser Unternehmen stiften; was sie allerdings darüber hinaus zu einer »Ware« machen sollte, verschweigt uns der Autor. Denn auf die klassisch liberale Position, für die Ware ein knappes, wirtschaftliches Gut ist, das einen Nutzen stiftet und tauschbar ist, kann sich Varoufakis mit seiner Ware Aufmerksamkeit nicht berufen: Die mag vielleicht knapp sein, »tauschbar« ist sie aber sicher nicht, sondern wird selbst genutzt, um kaufbares abzusetzen, das eben tausch-, und damit verkaufbar ist. Aber auch Marx’ Begriff der Ware kann dem nicht zugrunde liegen, da »Aufmerksamkeit« evoziert oder genutzt, aber sicher nicht »produziert« werden kann. So wie Hunger, Durst und auch kompliziertere menschliche Bedürfnisse ist sie ein Hebel, um Waren zu verkaufen und nicht selbst eine solche.
Und selbst die Werbung, welche die Aufmerksamkeit nutzt, ist nur Faux frais (zusätzliche Betriebskosten; jW) für den Verkauf von Waren. Sie ist also selbst kein Gut, das ein »menschliches Bedürfnis befriedigt« (MEW 23, 49), weder des Magens noch des Kopfes. Das kann schon daran abgelesen werden, dass Waren eben dadurch, dass sie für die Leute einen Gebrauchswert haben, verkauft werden können; Werbung dagegen wird nicht gekauft, sondern dient als Schmier- und Lockmittel für die Zirkulation von Waren.
… als Ende der Märkte
Gerade sollten die modernen Plattformen noch Aufmerksamkeitsmärkte sein, ein paar Seiten später soll dort von Märkten gar keine Spur mehr sein: »Wenn Sie zu Amazon gehen, haben Sie den Kapitalismus verlassen. Obwohl dort gekauft und verkauft wird, haben Sie ein Reich betreten, das man sich nicht als Markt vorstellen kann, nicht einmal als einen digitalen.« (106) Aber das bisschen Selbstwiderspruch bringt Varoufakis nicht aus dem Konzept. Ebenso wenig, dass ihm direkt selbst auffällt, dass zumindest zwischen den verschiedenen Plattformen dann doch noch etwas Konkurrenz zu finden ist. Die muss also umgehend dementiert werden: »Wir sollten die Rivalität zwischen Lehnsgütern nicht mit marktbasierter Konkurrenz verwechseln (…) Dass Tik Tok erfolgreich die Aufmerksamkeit von Nutzern von anderen Social-Media-Websites abgezogen hat, hat nichts damit zu tun, dass es niedrigere Preise verlangt oder höhere Qualität bei ›Freundschaften‹ oder Zusammenschlüssen bietet. Tik Tok hat ein neues Cloud-Lehen geschaffen für Cloud-Leibeigene, die eine andere Online-Erfahrung suchen, zu der sie abwandern wollen.« (155)
Nicht nur, dass das »Abziehen« von »Aufmerksamkeit« jetzt gerade nicht mehr mit »marktbasierter Konkurrenz« verwechselt werden soll, wo es gerade noch für die neuen »Aufmerksamkeitsmärkte« Pate stand: Varoufakis verpasst einfach, dass die Plattformen als Werbeplattformen um etwas ganz anderes als »Freundschaften« oder »Zusammenschlüsse« konkurrieren: Big Tech konkurriert hier um die Werbetats des industriellen Kapitals, das auf TikTok und Co. für seine Waren wirbt. Dafür ist die »Online-Erfahrung« der »User« das Mittel: Die Kunden des Unternehmens sind allerdings nicht die Nutzer der Sozialen Medien, sondern die Schalter der Anzeigen.
Bei nüchterner Betrachtung des Zitats sollte auch klar werden, wie wenig die Metapher des Technofeudalismus zu den von Varoufakis selbst vorgestellten ökonomischen Vorgängen passt. Wir sollen uns Nutzer von Sozialen Medien als Leibeigene denken – also immerhin Leute, die einem persönlichen Herrschaftsverhältnis unterworfen und an ihre Scholle gebunden sind –, welche auf der Suche nach »neuen Erfahrungen« dann ihren »Cloud-Lehen« per Wanderschaft doch aussuchen können; also das genaue Gegenteil eines Leibeigenen. Hinzu kommt, dass Varoufakis das Bild auch noch mitten im Buch wechselt, ab Seite 184 ist plötzlich nicht mehr von Big Tech die Rede, sondern von den USA und China als staatlichen Konkurrenten um die Konzerne die »Cloud-Lehen«.
»Vasallen-Kapitalisten«
Nehmen wir das Bild von den Lehen ernster, als es Varoufakis selbst tut, wenn er später plötzlich statt der Konzerne die Nationen als solche betitelt, wird ein weiteres Problem deutlich. Nicht nur, dass sich diese vorgeblichen »Lehen«, wie gerade gezeigt wurde, selbst in Konkurrenz miteinander befinden. Auch auf dem »Cloud-Lehen« selbst gibt es natürlich eine Konkurrenz der verschiedenen Anbieter gegeneinander. Diese Werbekunden bzw. die Produzenten der Waren, die auf Amazon und Co. angeboten werden, nennt Varoufakis »Vasallen-Kapitalisten« (150). Man könnte an dieser Stelle daran erinnern, dass Soziologen wie Philipp Staab schon 2019 für diese Sorte Plattformen den Begriff der proprietären Märkte² vorgeschlagen und versucht haben, die Spezifika der Konkurrenz auf diesen Plattformen zu bestimmen; aber man kann auch ganz immanent bleiben und erneut feststellen: Natürlich weiß Varoufakis um die Konkurrenz auf diesen Plattformen, die er aber an einem Ideal von Markt blamiert: »Selbst die hässlichsten Märkte sind Treffpunkte, wo Menschen interagieren und einigermaßen frei Informationen austauschen können (…) dort können die Käufer zumindest miteinander sprechen, Vereinigungen gründen, vielleicht einen Konsumentenboykott organisieren, um den Monopolisten zu zwingen, dass er einen Preis reduziert oder bei einem Produkt die Qualität verbessert.« (107)
Varoufakis ist hier sehr beredt darüber, welche gute Wirkung er selbst noch den »hässlichsten Märkten« zu- und den digitalen Handelsplattformen abspricht. Dass es sich um keine Märkte handelt – als würden ausgerechnet auf Amazon nicht täglich Hunderttausende Waren zirkulieren, von Verkäufern angeboten und von Käufern gesucht und gefunden werden; inklusive Sonder- und sonstigen Angeboten der verschiedenen »Vasallen« gegeneinander – ist eben nur für denjenigen schlüssig, der sich allerlei Ideale über den Markt macht, und diese heilsamen Wirkungen nun auf den Plattformen vermisst. Selbst wenn man daran denkt, wie Amazon mit seiner Macht über die von ihm selbst gestalteten Marktbedingungen beispielsweise seine »Amazon Basics«-Produkte so plaziert, dass sie sich in der Konkurrenz besonders gut durchsetzen, hat man es eben mit einer solchen zu tun.
Soviel also zum »Ende der Märkte«, das Varoufakis in- wie außerhalb der Cloud-Lehen konstatiert: Beides erweist sich als die Vermisstenanzeige der heilsamen Wirkungen, welche die Liberalen sich von der Konkurrenz der Kapitalisten erhoffen, nicht aber als deren tatsächliche Abwesenheit. Entsprechend entdeckt Varoufakis dann auch bei »den Märkten« früher – will heißen, in der Konkurrenz der Kapitalisten vor der Digitalisierung – eine alte Weltordnung, die »Frieden und Wohlstand für alle« (173) gesichert habe. Das bisschen Selbstwiderspruch, dass er dies gleichzeitig ein paar Seiten vorher (noch) nicht als Lob der »schlechten alten Tage« (168) verstanden wissen wollte, löst er für sich am Ende darin auf, dass er ausgerechnet sein Lob der Konkurrenz der Kapitalisten nicht als Affirmation des Kapitalismus verstanden haben will. Mehr noch, so erfahren wir später im Buch, sei seine Utopie gerade eine »wahrhaft kompetitiver Märkte« (226), die man durch die »Abschaffung kapitalistischer Firmen« (226) erreichen könne.
Ohne, dass Varoufakis es selbst deutlich macht, zeichnet er zwei sehr verschiedene Arten und Weisen nach, wie der Profit und damit auch der Kapitalismus sein Ende nimmt. Varoufakis verweist erstens auf die immer wichtiger werdende »Chance zur totalen Marktbeherrschung« (129), das heißt auf das extreme Wachstum der digitalen Konzerne, die durch ihre Expansion teils jahrzehntelang nur Verluste einfahren. Erlauben können sich die Big-Tech-Konzerne diese Strategie durch die finanzkapitalistische Spekulation auf die zukünftigen Gewinne der Unternehmen, welche durch das kostspielige Wachstum weiter angeheizt werden, was die Aktienkurse steigen lässt. Die steigenden Aktienkurse wiederum ziehen mehr Kapital an, was mehr Ausgaben für weiteres Wachstum ermöglicht: So sind Unternehmen wie Amazon, Tesla und viele andere zu globalen Großkonzernen geworden, bevor sie die ersten Gewinne einfuhren. Ein sich selbst befruchtender Kreislauf aus Wachstum und Kreditierung.³
Diese finanzkapitalistische Spekulation auf die zukünftige Marktmacht der neuen digitalen Unternehmen und der entsprechenden Profite der Zukunft ist richtig, liefert aber überhaupt kein Material für Varoufakis’ Beweiszweck: So zeige sich darin angeblich »perfekt die Emanzipation des Kapitalismus von Profiten: Von 2017 bis zum Beginn der Pandemie stiegen die Aktienkurse von Cloud-Unternehmen, die nur Verluste einfuhren, um 200 Prozent.« (129) Dabei ist die Emanzipation der digitalen Riesen von dem Profit dank finanzkapitalistischer Kreditierung eine sehr relative Angelegenheit; geht das Vertrauen verloren, dass sich zukünftig die entscheidenden Profite einstellen, dann sinkt die Nachfrage nach den Aktien der entsprechenden Unternehmen, die ehrgeizigen Wachstumspläne müssen relativiert werden, was wiederum an den Börsen entsprechend zur Kenntnis genommen wird und die Kreditierung weiter schmälert. Wo sich die Finanzwelt daher auch in Zukunft keinen Profit mehr versprechen kann, stellt sich der selbst befruchtende Kreislauf in seiner reziproken Variante als destruktive Abwärtsspirale dar.
Varoufakis missversteht also ausgerechnet die finanzkapitalistische Spekulation auf die Profite der Zukunft als deren Ende. Ausgerechnet die Konsequenz des Profitstrebens auf den Finanzmärkten wird so in ihr Gegenteil verwandelt, in eine »Aushöhlung eines der Kernprinzipien des Kapitalismus, des Profitstrebens« (130), statt als seine spekulative Konsequenz erkannt.
Die Rente
Aber das ist nicht das einzige »Ende« des Profits, das Varoufakis ausmacht. Selbst wo noch Gewinne sprudeln, soll es sich nicht mehr um Profite handeln. Die modernen »Feudalherren«, also Amazon und Co., würden statt dessen einfach einen Tribut von den Unternehmen verlangen, welche auf ihren Plattformen ihre Waren feilbieten, und entsprechend eher eine digitale Rente einstreichen. Rechnerisch gebe es zwar zwischen Rente und Profit keinen Unterschied – »Rente wie Profit sind das Geld, das übrig bleibt, wenn alle Kosten bezahlt sind« (145) – aber hier hören die Gemeinsamkeiten bereits auf: »Der Unterschied ist subtiler, qualitativ, beinahe abstrakt: Profit ist gefährdet durch Wettbewerb auf dem Markt, die Rente nicht. Der Grund liegt in ihren unterschiedlichen Ursprüngen. Eine Rente fließt aus dem privilegierten Zugang zu Dingen mit fixem Angebot wie fruchtbarem Boden und Land, in dem fossile Brennstoffe lagern. Man kann nicht mehr von diesen Ressourcen produzieren, egal, wie viel Geld man investiert. Profit hingegen fließt in die Taschen unternehmerisch denkender Menschen, die in Dinge investiert haben, die es ohne sie nicht geben würde – Dinge wie Edisons Glühbirne oder Jobs’ I-Phone. Weil diese Waren erfunden und geschaffen wurden und deshalb wieder erfunden und geschaffen werden können, aber besser und von jemand anderem, ist Profit gefährdet durch Wettbewerb.« (145)
Varoufakis’ Frage nachzugehen, woher der Gewinn der Techunternehmen kommt, wäre durchaus lohnend. Sollte der sich tatsächlich als reiner Abzug von den Profiten der produzierenden Kapitalisten darstellen, dann wirft das spannende Fragen auf, die schon seit Jahren diskutiert werden.⁴ So interessant die von ihm aufgegriffene Frage, so verkehrt seine Antwort: So verweist der Begriff Rente zwar darauf, dass die Revenue dieser Unternehmen Abzug vom Profit anderer Unternehmen ist, damit wird sie aber nicht zu einem Gegensatz zum Profit generell: Sie ist dann eben Abzug vom Profit der »Vasallen-Kapitalisten«, umgekehrt aber natürlich Quelle des Profits von Big Tech.
Damit ist dann aber auch klar, dass die Rente auf den dauerhaften Profit der Kapitalisten angewiesen ist, deren Gewinne tatsächlich aus der Produktion von Mehrwert resultieren. Der Anteil der Rente am gesellschaftlichen Mehrwert mag daher steigen oder fallen, ersetzt werden kann der Profit niemals durch die Rente, weil sie nichts anderes ist als ein Teil des gesellschaftlich produzierten Mehrwerts, der nur an eine andere Charaktermaske geht als denjenigen Unternehmer, der sie den Arbeitern abgepresst hat. Mit David Ricardos Überlegungen zur Grundrente⁵ oder gar Marx Entwicklung der Differenzialrente (MEW 25, 659f./829) sollten die Überlegungen von Varoufakis daher nicht verwechselt werden.
Kein Wunder, hat Varoufakis doch gar keine ökonomischen Fragen, sondern moralische Antworten. Dass Big Tech für Werbung oder den Verkauf von Produkten auf seiner Plattform Gebühren verlangt, ist schon der ganze Skandal, den Varoufakis mit den Begriffen von Rente statt Profit nur noch illustriert. Was bei Marx als Überlegung zum Verhältnis von Rente und industriellem Gewinn behandelt wird⁶, ist bei Varoufakis Lob des industriellen Profits, der nicht aus »privilegiertem Zugang zu Dingen« (145), sondern aus Erfindungen, Schaffensgeist und unter dem Joch der Konkurrenz gewonnen wird; aus der ökonomischen Erkenntnis, dass die Rente nur als Abzug am Mehrprodukt existiert, das den Arbeitern als kapitalistischer Profit abgepresst wird, wird so das Lob des Profits durch die liberalen Rechtfertigungen der Ausbeutung: Erfindungsreichtum, Risiko und Co. So erledigt sich auch Varoufakis’ zweites theoretisches Standbein, das vorgebliche Ende des Profits.
Ist im Zitat oben das I-Phone noch ein Beispiel für den guten Profit durch Innovationsgeist der industriellen Kapitalisten und gegen die leistungslose Rente von Big Tech, steht das gleiche Beispiel nur zwei Seiten weiter für die umgekehrte Sache: Apple »überlebte den brutalen Wettbewerb (…) indem es Desktops, Laptops und iPods mit schönem Design und der berühmten Benutzerfreundlichkeit verkaufte, die es Apple letztlich erlaubten, ordentliche Summen als Markenrente zu verlangen« (148). Varoufakis’ Unterscheidung von Rente und Profit anhand der Rechtfertigungen des Profits kommt hier an ihr gerechtes Ende.
Was die Einnahmen durch das bloße staatlich geschützte Recht betrifft, auf seine Produkte einen Apfel kleben zu dürfen, mag sich ökonomisch von der Quelle des Werts abgrenzen; seine Unterscheidung von Rente als unverdiente Revenue im Gegensatz zum Profit blamiert sich an einer Rente, die jetzt ausgerechnet aus der Benutzerfreundlichkeit eines Produktes resultieren soll – also gerade unmittelbar aus der »Innovation«. Erneut sollte davor gewarnt werden, die ökonomisch interessante Frage, ob sich der Extraprofit einer Marke eigentlich über den Mehrwert oder nicht tatsächlich über den Begriff der Rente bei Marx erklären lässt⁷, mit Varoufakis’ Tour zu vermischen, lauter Rechtfertigungen für die Sache selbst zu halten.
Fakten und Fiktionen
Zu dieser falschen Theorie kommt dann noch Varoufakis’ Umgang mit Fakten, der hier nur an einem Beispiel illustriert werden soll. Während beim »klassischen Kapital« wie »General Electric, Exxon Mobil, General Motors« sowie bei »jedem anderen großen Konzern« nicht weniger als »etwa 80 Prozent der Firmeneinnahmen als Löhne und Gehälter an die Beschäftigten ausgezahlt werden«, seien es bei Big Tech »weniger als ein Prozent der Einnahmen. Der Grund dafür ist, dass bezahlte Arbeit bei Big Tech nur einen sehr kleinen Teil der Arbeit ausmacht. Der größte Teil wird von Milliarden Menschen kostenlos erbracht.« (105)
Da Varoufakis (nicht nur hier) ohne Quellen auskommt, bleibt unklar, welche Kennziffern genau er im Auge hat.⁸ Selbst wenn man freundlich von der Personalkostenquote ausgeht, in welche häufig noch Kosten für den Arbeitsplatz, Cafeterien und Küchen, Stühle und Büros gezählt werden und die daher mit »Löhne und Gehälter an die Beschäftigten« nicht richtig gefasst werden, ergeben sich völlig andere Zahlen. VW, der Autokonzern mit den weltweit höchsten Personalkosten, gibt für das Jahr 2023 an, »genau 15,4 Prozent des Umsatzes für die Angestellten«⁹ auszugeben. Auch der Verband der Automobilindustrie bestätigt, dass VW die höchsten Arbeitskosten in der Branche hat – weltweit. Auch wenn sich für General Motors keine verlässlichen Zahlen finden lassen, so doch für die USA als Automobilstandort insgesamt: Pro Auto sollen dort Arbeitskosten (Lohn, Sozialbeiträge und Pensionsleistungen) von weniger als der Hälfte im Vergleich zu Deutschland anfallen, das heißt circa 4.000 US-Dollar.¹⁰ Von einer Lohnquote von 80 Prozent kann also auch hier keine Rede sein, eher von ebenfalls um die 15 Prozent.¹¹
Und was ist mit den unter einem Prozent der Einnahmen, welche die IT-Branche für den Lohn ausgeben muss? Nehmen wir den Google-Mutterkonzern Alphabet als Beispiel: Der Gesamtumsatz des Unternehmens lag 2023 bei 307,39 Milliarden US-Dollar.¹² Nehmen wir Varoufakis ernst, dann würden die mehr als 190.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Google von diesem Umsatz ein Prozent erhalten, das heißt pro Kopf im Durchschnitt rund 16.000 US-Dollar verdienen – pro Jahr. Keine Ausnahme: Für den Facebook-Mutterkonzern Meta ergibt sich bei einem Umsatz von 122,03 Milliarden US-Dollar im gleichen Jahr und 72.000 Mitarbeitern ein angebliches durchschnittliches Jahresgehalt von 16.948 Euro.
Die Empirie im Buch ist daher Fiktion, nicht Fakt. Die Zahlen sind nicht etwa unscharf oder wahnsinnig unpräzise, sondern schlicht und einfach frei erfunden. Seine »antikapitalistische Utopie« ist eine Verherrlichung von Profit und Markt als Innovationskraft und seine These vom Technofeudalismus ein Lob des Kapitalismus, der angeblich mit all den Verwerfungen seit 2008 nichts zu tun habe.
Anmerkungen
1 Alle Seitenangaben nach Yanis Varoufakis: Technofeudalismus. Was den Kapitalismus tötete. München 2024. Das Buch hat auch noch eine ganze Theorie des Finanzkapitalismus im Angebot. Diese wird in dieser Rezension aber nicht behandelt.
2 Philipp Staab: Digitaler Kapitalismus. Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit. Berlin 2019
3 Wie das funktioniert, haben Hans Zobel und ich schon 2021 bei Jacobin gezeigt: »Elon Musk’s Gigafactory Shows the Hollowness of Green Capitalism«.
4 Unbedingt lesenswert: Tomás Rotta und Teixeira Rodrigo: The commodification of knowledge and information, aus: Greenwich Papers in Political Economy, 2018
5 David Ricardo: Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung. Marburg 2006
6 Der »liberale Marxist« Varoufakis bezieht sich hier, wenn überhaupt, sehr interessiert auf Marx, der die Rente als Revenuequelle entwickelt, die gar nicht in der Naturkraft alleine – »fruchtbaren Boden oder Land« – aufgeht, sondern vielmehr in einer »monopolisierbaren und monopolisierten Naturkraft« (MEW 25, 658), das heißt in dem staatlichen Gewaltmonopol, welches noch die Bedingungen jeder Produktion als Eigentum setzt und damit zur Quelle von Reichtum macht. Marx schließt daraus, dass die Rente der Sache nach nur als Abzug vom Profit des produktiven Kapitalisten existiert, als Anteil an dem im Produktionsprozess bestehenden Wert (MEW 25, 829).
7 Durchaus lohnenswert ist es hier den Artikel »Der Kopf als Revenuequelle. Die Widersprüche des geistigen Eigentums« aus Gegenstandpunkt 2-15 einmal zur Kenntnis zu nehmen.
8 Wenn er hier von der Nettowertschöpfung (Value added) ausgeht, müsste er allerdings mindestens eine Rechnung präsentieren, weil derartige Zahlen weder selbstverständlich noch einfach irgendeinem VWL-Index zu entnehmen sind.
9 Deutsche Autoindustrie ist weltweit teuerste: VW an der Spitze, Auto, Motor und Sport, 20.11.2024
10 Kampf um den Auto-Standort: Ein Auto, 3.300 US-Dollar Lohnkosten, ZDF, 8.5.2025
11 Wenn man von 6,2 Millionen Fahrzeugen ausgeht, die GM 2023 produziert hat, und diese mal 4.000 Dollar setzt, landet man bei 24,8 Milliarden US-Dollar. Bei einem Gesamtumsatz von ca. 171,8 Milliarden Dollar 2023 ergibt sich ein Arbeitskostenanteil von rund 14,4 Prozent.
12 Google knackt die 300 Milliarden Dollar Jahresumatz – so viel haben die einzelnen Bereiche beigesteuert, Googlewatchblog, 3.2.2024
Peter Schadt schrieb an dieser Stelle zuletzt am 4. Februar 2025 über die Geschichte der Digitalisierung des indischen Subkontinents: »Die Swadeshi-Maschine«
Tageszeitung junge Welt am Kiosk
Die besonderen Berichterstattung der Tageszeitung junge Welt ist immer wieder interessant und von hohem Nutzwert für ihre Leserinnen und Leser. Eine gesicherte Verbreitung wollen wir so gut es geht gewährleisten: Digital, aber auch gedruckt. Deswegen liegt in vielen tausend Einzelhandelsgeschäften die Zeitung aus. Überzeugen Sie sich einmal von der Qualität der Printausgabe.
links & bündig gegen rechte Bünde
Jetzt den kostenlosen jW-Newsletter abonnieren – täglich das Beste aus der Tageszeitung junge Welt, direkt in Ihr Postfach. Ihre E-Mail-Adresse wird natürlich niemals an Dritte weitergegeben.
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Wolfgang D. (29. Oktober 2025 um 08:38 Uhr)Der Artikel ist schwer lesbar, nicht auf den Punkt gebracht, mehr Schienbeintreten als Reflektieren neuer Ideen. Warum lädt die Junge Welt nicht mal Varoufakis ein, auf diese Polemik zu antworten? So könnte eine relevante Diskussion entstehen.
- Antworten
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Sigrid F. aus Mannheim (28. Oktober 2025 um 10:00 Uhr)Ist es nicht so, dass Google und Amazon längst mit Cloud-Computing, also Bereitstellung von Speicher und Software auf Server-Farmen, den meisten Umsatz und Gewinn generieren? Das heißt, die Techkonzerne sind längst keine Nicht-nur-Rentier-Kapitalisten, sondern ganz altmodische profunde Kapitalisten, eben auf der Höhe der Zeit. Ganz abgesehen vom Musk-Imperium, das alle Spielformen kennt. Ich wäre interessiert an mehr Analysen zu diesem Bereich.
- Antworten
-
Leserbrief von Onlineabonnent/in Heinrich H. aus Stadum (26. Oktober 2025 um 22:16 Uhr)Von Varoufakis hätte ich mehr erwartet. Mit Zahlen und Theorien liberal umzugehen, mag ja en vogue (oder heißt das heutzutage »woke«?) sein, hilfreich ist es aber nicht, im Artikel sind einschlägige Fakten benannt. Den Google habe ich gefragt: »Exxon Mobil umsatz 2024 beschäftigte«, seine KI antwortet: »Im Jahr 2024 hatte ExxonMobil einen Umsatz von rund 349,6 Milliarden US-Dollar und beschäftigte weltweit etwa 61.000 bis 70.000 Mitarbeiter. Der genaue Umsatz kann je nach Quelle leicht variieren. (…) Gewinn 2024: Der Gewinn für das Gesamtjahr 2024 lag bei 33,7 Milliarden US-Dollar.« Man vergleiche Umsatz und Beschäftigtenzahl von Exxon Mobile mit Google und Meta und was Varoufakis sagt. Allerdings hat die Feudalismus-Theorie einen gewissen Reiz: Wenn ich mir die Eskapaden des Herrn Trump und verschiedener anderer Herren Milliardäre ansehe, könnte ich mir vorstellen, dass diese Herren (und Damen?) eine Weltherrschaft anstreben (Bill Gates soll eine Napoleon-Figur auf seinem Schreibtisch stehen haben). Irgendwie so Kurfürsten, die einen König oder Kaiser ernennen, die dann zusammen die Welt absolutistisch regieren. Allerdings spricht augenblicklich einiges dafür, dass der (bürgerliche) Nationalstaat wieder Oberwasser bekommt und imperialistische Konflikte in altbekannter Manier auftauchen und gelöst werden sollen. Ein weiteres wichtiges Thema ist die Blasenfrage. Also nicht an den Urologen, sondern an die Finanzmärkte in Bezug auf reales und fiktives Kapital.
- Antworten
Ähnliche:
jW09.08.2025Über Monopole
Gregor Fischer/dpa27.06.2025Amazon boykottiert erneut Anhörung
Rupert Oberhäuser/IMAGO21.06.2025Zollkeule gegen Temu und Co.