»Da sollen wir uns in die Ecken verkriechen?«
Von Detlef Kannapin
Angesichts der politischen und zivilisatorischen Verwerfungen der vergangenen dreißig Jahre, die sich inzwischen in kaum für möglich gehaltener kulturindustrieller Konformität äußern, sticht ein früheres Werk, das Antifaschismus, Sozialismus und Humanismus verpflichtet war, um so deutlicher hervor. Ein solches Werk schuf der Filmregisseur Konrad Wolf (1925–1982), und zwar kontinuierlich, von seinem ersten bis zu seinem letzten Film. Die heute weit verbreitete Meinung, dass die Filme des Sozialismus einer untergegangenen Welt angehörten, anachronistisch und deshalb ohne Bedeutung für die Gegenwart seien, stellt sich bei Betrachtung dieser Filme als Trugschluss heraus.
Die beiden wesentlichen Fragen, die Konrad Wolf zeitlebens beschäftigten, ja quälten, waren: Warum wird jemand Nazi? Und: Wie kann es nach der faschistischen Barbarei gelingen, eine Gesellschaft vernünftig, nach sozialistischen Kriterien zu organisieren? Diese Fragen gehörten für Wolf zusammen und sind in all seinen Filmen präsent.
Als er sich Anfang der 1950er Jahre für die Filmregie entschied und sein Studium am »Staatlichen Institut für Kinematografie« (WGIK) in Moskau absolvierte, hatte er für einen 25jährigen schon übergenug erlebt. Als Sohn des kommunistischen Dramatikers Friedrich Wolf (1888–1953) früh politisiert, ab 1934 im sowjetischen Exil lebend, dort vom Revolutionsfilm beeindruckt und selbst mit einem kurzen Auftritt in dem antifaschistischen Emigrantenfilm »Kämpfer« (1936, Regie: Gustav von Wangenheim) vor der Kamera, leistete er als Sowjetbürger und Angehöriger der Roten Armee seinen Beitrag zur Niederringung des deutschen Faschismus – er gehörte zu den sowjetischen Truppen, die Berlin einnahmen. Für Wolf stellte die DDR die einzig gangbare Alternative zum verhängnisvollen deutschen Irrweg, der zu zwei Weltkriegen geführt hatte, dar. Ohne Akzeptanz dieser Prämisse wird man seinem Leben und Werk nicht gerecht werden können.
Sein Credo als politisch aktiver Mensch formulierte Wolf im Februar 1981 in einem Brief an den Schriftsteller Peter Weiss: »Wir haben uns einiges vorgenommen, manche halten uns für hoffnungslose Utopisten, Idealisten, weltfremde Spinner. Aber Utopie ist Hoffnung, Hoffnung verlangt Arbeit, Arbeit / Sinnvolle! / setzt Denken voraus – gerade in dieser jetzt aus allen Fugen geratenden Welt. Unvernunft und blanker Schwachsinn dröhnt durch die Welt – da sollen wir uns in die Ecken verkriechen? Ich kann es nicht, sogar wenn sich Bemühungen um mehr Vernunft und Solidarität der Vernünftigen zeitweilig als Niederlage herausstellen sollten.«
»Einmal ist keinmal«
Wolf war der Meinung, ein guter Film sei »zuerst einmal ein Zeitdokument«. Damit setzte er die produktive Tradition derjenigen Filmemacher, -enthusiasten und -kritiker fort, die das Medium Film als Kunstwerk wie als Ausdruck der Mentalitätsgeschichte betrachteten. Ob er seinen Erstling, die musikalische Komödie »Einmal ist keinmal« (1955) als einen guten Film bezeichnet hätte, darf bezweifelt werden. Er selbst meinte, sich hier im Genre vergriffen und eher der allgemeinen Forderung der Zeit nach heiteren Stoffen nachgegeben zu haben. Im Verhältnis zu vielen seiner späteren Filme stimmt das auch, nicht jedoch im Hinblick auf das Dokumentarische des Zeitbezuges. Denn auch wenn es sich inhaltlich wie formal um ein herkömmliches Unterhaltungsprodukt handelt, ist die Nähe zum berüchtigten »Heimatfilm« westdeutscher und österreichischer Prägung eher äußerlich. Die recht harmlose Geschichte des Westkomponisten Peter Weselin (Horst Drinda), der während seines Urlaubs in Klingenthal/DDR in den Konflikt zwischen ernster Orchester- und heiterer Tanzmusik gerät, enthält neben den genre-typischen Albernheiten und zwischenmenschlichen Liebesverwicklungen auch satirische Momente über das gesellschaftliche Leben in der Bergprovinz der DDR.
Der Protagonist sucht die Instrumentenfabrik am Ort auf und fragt nach einem »Herrn Veb«, der doch der Chef sein müsse, während der Pförtner am Eingang die Sachlage mit der Erklärung richtigstellt, dass »VEB« tatsächlich auf Chef verweist, allerdings in dem Sinne, wonach in einem Volkseigenen Betrieb (VEB) alle die Chefs seien. In Konfrontation mit dem »vereinigten Klangkörper« wird Peter davon überzeugt, dass sich E- und U-Musik nicht ausschließen müssen. Insbesondere fehlen dem Film die für viele westliche »Heimatfilm«-Produktionen gängigen Volksgemeinschaftsphantasien, die auf dem Ausschluss »ortsfremder Eindringlinge« aus der Berg- und Talidylle beruhen. Am Ende gelingt Wolf sogar noch eine durchaus bewegende Abschlusschoreographie, die sich sinnvoll in die geschlossene Dramaturgie des Films einfügt.
»Genesung«
In »Genesung« (1956) ist das Thema bereits gefunden und zum Teil auch entschlüsselt: Wie verhält sich wer unter welchen Umständen in Deutschland nach 1933, in der Ausnahmesituation des Krieges und in der Zeit des Aufbaus einer neuen Gesellschaft? Vier Personen des Films sind in ihren Motivlagen zu verstehen: der kommunistische Funktionär Mehlin (Wolfgang Langhoff), die Widerstandskämpfer Irene (Karla Runkehl) und Max Kerster (Wilhelm Koch-Hooge) sowie die Hauptfigur, der Medizinstudent Friedel Walter (Wolfgang Kieling). Der dem politischen Leben eher gleichgültig gegenüberstehende Walter hilft 1941 Mehlin aus einer Zwangslage. Am Ende des Krieges hat er durch Zufall die falsche Identität eines Arztes angenommen, und diese vorgetäuschte Autorität sorgt später beim versehrten Kerster für die titelgebende Genesung, die aber nicht subjektiv gemeint, sondern allegorisch auf das Ganze der Gesellschaft zu verstehen ist.
Der Film nimmt sich Zeit für Abwägungen und dafür einige Längen in der Dialogführung in Kauf. Das Aufbaupathos, besonders in den Gerichtsszenen am Ende, als Walter des Betruges wegen der falschen Arztidentität angeklagt wird, durch Fürsprache Mehlins und eigener Willensbekundung zur Beteiligung am Aufbau aber freigesprochen wird, ist kein rein aufgesetztes, sondern der Versuch, eine indirekte Variante des sozialistischen Realismus mit melodramatischen Mitteln zu etablieren. Der noch experimentelle Charakter des Film wird besonders daran deutlich, dass es keine elaborierte Auflösung der Handlung gibt und der Schluss etwas abrupt und unvermittelt erscheint.
»Sterne«
Der nach einem Originalstoff von Wolfs Moskauer Studienkollegen Angel Wagenstein (1922–2023) als deutsch-bulgarische Koproduktion entstandene Film von 1959 ist nicht allein dadurch bemerkenswert, dass er die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis ins Zentrum der Handlung stellt, sondern dass er dies vor dem Hintergrund der deutschen Besatzung artikuliert.
Fast wie nebenbei gerät das kriegsferne Refugium des Unteroffiziers Walter (Jürgen Frohriep) in einer bulgarischen Stadt ins Wanken, als eine große Gruppe griechischer Juden dort ankommt, die nach Auschwitz deportiert werden sollen. Walters Vorgesetzter Kurt (Erik S. Klein) ist ein Besatzungsoffizier, der kein Pardon kennt, den Juden eingeschmuggelte Medizin wegnimmt und sie mit Essensentzug bestraft. Sein lapidares »Schneller, schneller, schneller« beim Einstieg der Todgeweihten in die Güterwagen bleibt den Zuschauern lange im Gedächtnis. Walter beginnt, zu der Lehrerin Ruth (Sascha Kruscharska) aus dem Lager eine Zuneigung zu entwickeln, und möchte zumindest sie befreien, was misslingt, da er zu spät am Verladebahnhof eintrifft. Er wird aber zukünftig den bulgarischen Partisanen helfen.
Dieser Glücksfall der Defa, inneres Bedürfnis und antifaschistisches Bekenntnis zugleich, wurde zu einem Zeitpunkt produziert, als überwiegende Teile der Bonner Ministerialbürokratie noch darüber nachdachten, wie man die »sogenannten Kriegsverbrecher«, also kriminelle Mörder von Wehrmacht und SS, möglichst schnell wieder frei und straffrei bekäme und sich zugleich darum bemühte, die DDR mittels der Hallstein-Doktrin diplomatisch zu isolieren. Dementsprechend schrieb Der Spiegel am 27. Mai 1959 von einem zum Festival nach Cannes »eingeschmuggelten« Film (er war als bulgarischer Beitrag eingereicht worden), der »zum Entsetzen der bundesdeutschen Cannes-Fahrer« dort »mit einem Sonderpreis entlohnt« wurde. Der in dem Magazin als »KZ-Film« bewusst völlig fehlinterpretierte Inhalt von »Sterne« spielte bei der Berichterstattung keine Rolle, das Thema sei sogar nach Meinung eines zitierten westdeutschen Rezensenten »unwürdig verfilmt worden«. Wie danach eine »würdige« Verfilmung hätte aussehen sollen, mag man sich ausmalen, wenn man die verharmlosenden BRD-Stoffe zum Nazithema der 1950er Jahre zu Rate zieht.
»Professor Mamlock«
Friedrich Wolf hatte eine Zeitlang gehofft, in seinem Sohn Konrad den adäquaten Filmbearbeiter der eigenen Theaterstoffe gefunden zu haben. Der frühe Tod des Vaters 1953 und das noch nicht abgeschlossene Studium des Sohnes verhinderten eine Zusammenarbeit, aber auch unterschiedliche Auffassungen über die richtigen ästhetischen Zugangsweisen zum Material waren ein Hindernis. Eine erste Verfilmung von »Professor Mamlock« in der Sowjetunion (1938, Regie: Herbert Rappaport) wurde von höchsten NS-Stellen als so wirkmächtig eingestuft, dass sie für das »Großdeutsche Reich« auf alle Zeit verboten war.
Konrad Wolf erfüllte mit dem Film 1961 ein Vermächtnis. Das humanistische Lebensideal des Chefarztes Hans Mamlock (Wolfgang Heinz), das er seiner Familie, den Freunden und den Arbeitskollegen weitergeben möchte, wird durch die Politik in Deutschland 1933 jäh zerstört. Sein Sohn (Hilmar Thate) ist kommunistisch aktiv und wird alsbald in die Illegalität gezwungen, seine Tochter (Doris Abeßer) wird in der Schule mit »Juden raus!«-Rufen attackiert, selbst seine Frau (Ursula Burg) verdächtigt ihn aufgrund seiner »Rasse«. Der klarste Kommentar zum Thema stammt von einem Kollegen Mamlocks (Peter Sturm): »Ich bin Jude, die (Nazis; D. K.) haben’s mir beigebracht.« Die inhaltliche Hauptlehre des Stücks wird im Film deutlich benannt: Es gibt kein größeres Verbrechen, als nicht kämpfen zu wollen, wo man kämpfen muss. Reihenweise fallen die ehemaligen Mitstreiter um und lassen Mamlock verzweifelt zurück, der schließlich keinen anderen Ausweg als den Selbstmord mehr sieht.
Die filmische Lösung umgeht die Fallstricke eines lediglich bebilderten Theaterstücks. Obwohl häufig auf die zweidimensionale Enge der Innenräume beschränkt, nutzt Konrad Wolf die in seinen früheren Filmen eingeübte Technik der Kombination von Halbtotalen und Großaufnahmen, die hier stimmig verwendet wird. Der Perspektivwechsel der Kameraführung ist der jeweiligen Handlungssituation angemessen. Zweifellos lebt der Film von der hervorragenden Schauspielerführung und der textlichen Genauigkeit, die jedoch ohne die Exaktheit des Bildarrangements leicht hätten verpuffen können. Um so unverständlicher erscheint aus heutiger Sicht, dass die zeitgenössische Kritik dem Film gerade die formale Beschränktheit auf rein theatralische Methoden vorwarf. »Professor Mamlock« war in der DDR Schulstoff und gehörte in Drama- und Filmfassung zur Allgemeinbildung.

»Der kleine Prinz«
Dieser Film (1966/1972) ist weit mehr als eine Fingerübung. Erich Kästners Grundsatz folgend, dass nur, wer Kind bleibt, auch Mensch sein kann, ist Konrad Wolfs Version des Buches von Antoine de Saint-Exupéry (1900–1944) eine konsequente Fortführung seines Humanismus. In stark stilisierten und genau komponierten Bildern entwirft der Film die Phantasiewelt des Prinzen (Christel Bodenstein) im Dialog mit dem in der Wüste gestrandeten Piloten (Eberhard Esche), die beide zu der Erkenntnis kommen, dass man sich miteinander vertraut machen muss, um zueinander zu finden – denn nur mit dem Herzen sieht man gut.
Die Beschreibungen des Königs (Wolfgang Heinz), des Eitlen (Horst Schulze), des Geschäftsmannes (Jürgen Holtz) und des Laternenanzünders (Fred Düren) erreichen immer noch die Strahlkraft der Entlarvung einer völlig entfremdeten Gesellschaft, sofern die Metaphorik ernstgenommen wird: Die Absurdität menschlicher Verhaltensweisen beruht auf dem Zwang der Verhältnisse und nicht auf einer vermeintlich »angeborenen« DNA der Spezies. Schlange (Inge Keller) und Fuchs (Klaus Piontek) dienen als Medien der Wahrheit: Gefahr und Zähmung verschaffen in vernunftgemäßer Ausbalancierung einen sozialen Ausgleich, der freilich ständiger Pflege bedarf, so wie die einzigartige Rose, die der kleine Prinz zu pflegen hat.
In einem Prolog und einem Epitaph auf den Autor unter Verwendung einer Ballade, gesungen von Manfred Krug, wird auf die gesellschaftliche Brisanz des Stoffes anhand von Standfotos zu Krieg und Frieden aufmerksam gemacht. Das ist alles andere als Beiwerk, denn die Betonung der damals aktuellen Diskrepanz zwischen dem sozialistischen Friedenswillen und einem wenig friedlichen globalen Weltzustand verstärkt die Botschaft der Fabel. Weil die Urheberrechte für eine Verfilmung nicht erworben worden waren, hatte der Fernsehfilm erst im Mai 1972 seine Premiere und konnte bis 2015 nur selten gezeigt werden.
»Ich war neunzehn«
Der Hauptheld des Films von 1968, der junge Rotarmist Gregor Hecker (Jaecki Schwarz), kommt ursprünglich aus Köln, aber sein sowjetischer Befehlshaber kann ihm nur Bernau bieten. Hier wird er kurz vor Kriegsende für zwei Tage Stadtkommandant. Der Ort ist im April 1945 fast leer, nur das Bürgermeisterpaar hat eine rote Fahne aus dem Fenster gehängt, in der der weiße Kreis und das schwarze Hakenkreuz mit rotem Stoff zugenäht sind. Die Geschichte des Deutschen Hecker in der Uniform eines Leutnants der Roten Armee ist auch Wolfs kaum verfremdete eigene Geschichte.
Wie wird man Nazi? Hier wird die Frage aus dem Blickwinkel des Antifaschisten, Exilierten, Wiederkehrenden und Heimatsuchenden gestellt. Und die Antworten können keine anderen sein als die der Befreier, Sieger und Besatzer. Es sind, angesichts der Abgründe des faschistisch-imperialistischen Eroberungskriegs und der aktiven Selbstgleichschaltung der deutschen Gesellschaft, die richtigen, wenn auch noch unfertigen Antworten. Der Film ist nach einer tagebuchartigen Chronik der letzten Tage vor der deutschen Kapitulation aufgebaut und nimmt möglichst viele typische Situationen in den Blick: die Ohnmacht der Zivilbevölkerung, die Befreiung des Konzentrationslagers Sachsenhausen – unter Verwendung von Ausschnitten aus dem Dokumentarfilm »Todeslager Sachsenhausen« (1946, Regie: Richard Brandt) –, die verbrämte Rechtfertigung der NS-Ideologie durch Repräsentanten des deutschen Bürgertums, die Wut der befreiten Antifaschisten sowie die sinnlose Opferung von Menschen zu einem Zeitpunkt, als der Krieg schon längst verloren ist.
Ursprünglich unter dem Arbeitstitel »Heimkehr 45« konzipiert, besticht der Film durch seinen graduellen Wechsel aus objektivem Anspruch und subjektiver Sichtweise der Hauptfigur. Wesentliche Informationen des Frontverlaufes, seiner Ursachen und Folgen im Kampf um Berlin werden realitätsgerecht aufbereitet und immer wieder durch die individuellen Reaktionen reflektiert, dabei teilweise bestätigt wie auch teilweise gebrochen. Einiges ist nur angedeutet (Vergewaltigungen, Selbstjustiz), anderes wiederum ausführlich dargelegt; vor allem zeigt sich dabei eine Nachdenklichkeit, die sich zwingend auf das Publikum überträgt. Das gilt gleichermaßen für die Wahrnehmung des als Dorfbürgermeister eingesetzten alten Kommunisten (Walter Bechstein) wie für den sich aus der Zitadelle Spandau absetzenden jungen Wehrmachtsoffizier (Jürgen Hentsch). Die vielen »Denkanstöße« des Films fanden daher zu Recht in der DDR große Resonanz. Einzelne westdeutsche Rezensenten sahen hingegen in dieser Komplexität der Erfahrung eine »Schule der Lethargie« am Werk, was offenbar auf einer Verkennung des Gegenstandes und der ästhetischen Mühe seiner Bewältigung basierte. Am Nullpunkt der modernen Zivilisation, die der Faschismus darstellt, ist einzig das vernunftgeleitete Gegenbild aus der Perspektive seiner Gegner und Opfer das berechtigte.
»Nackter Mann auf dem Sportplatz«
Konkretere Aussagen zum Verhältnis von Kunst, Alltag und Arbeit in der DDR macht kein anderer Film. Gleichzeitig gelingt es »Der nackte Mann auf dem Sportplatz« (1973), so etwas wie den Atem dieses Landes in ruhigen Zügen einzufangen. Die erste Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase (1931–2022) führt die Zuschauer in den Arbeits- und Lebensrhythmus des Bildhauers Kemmel (Kurt Böwe), der beauftragt wird, für den ortsansässigen Sportverein eine Skulptur anzufertigen. Vorbild für die Figur Kemmels ist der Bildhauer Werner Stötzer, der im Film den Bürgermeister verkörpert.
In Parallelgeschichten werden Episodenstränge der Aktivitäten von Kemmel beleuchtet, die von den Beziehungen zu seiner Frau Gisi (Ursula Karusseit) und seinem Sohn, vom öffentlichen Umgang mit seiner Kunst, dem privaten Kunstgeschmack der Nachbarn sowie historischen Reflexionen berichten. Dabei kommen geschichtlich und politisch relevante Aspekte der DDR-Realität in den Blick, die sich zu einem dokumentarischen Mosaik verdichten: Kemmels Relief »Bodenreform« steht im Feuerwehrturm der LPG, statt ausgestellt zu werden, weil ihm angeblich Optimismus fehlt. Gleichzeitig fordert diese Kunst zur Stellungnahme heraus. Gisis Übersetzungsarbeiten über das System der Konzentrationslager und Vernichtungsstätten des deutschen Faschismus lassen Kemmel nicht los, er bleibt aber mit dieser Beschäftigung ziemlich allein. Schließlich wird auch der Modellkopf des ausgesuchten Brigadiers (Martin Trettau) für die Sportlerskulptur gar nicht verwendet, obwohl er vorher als ideale Vorlage erschien. Im Gespräch zwischen Kemmel und dem Brigadier gegen Ende des Films über die Bedeutung der Kunst, auch der vormals unverstandenen, wird der Prozesscharakter ästhetischer Wahrnehmung letztlich positiv bewertet: »Mit der Zeit sieht man doch hin.«
Im Gegensatz zu seiner nicht hoch genug einzuschätzenden Spätwirkung erreichte der Film nach seiner Uraufführung nur wenige Kinobesucher. Ein Grund dafür dürfte aus heutiger Sicht die eigentümliche Selbstverständlichkeit der Problembehandlung gewesen sein, die dem damaligen Publikum möglicherweise zu allgegenwärtig und banal erschienen sein mochte, weil es um Dinge ging, die jeder aus seinem persönlichen Umfeld kannte.
»Solo Sunny«
»Fräulein« Ingrid Sommer, Künstlername Sunny (Renate Krößner), ist Sängerin und wird es bleiben. Autor und Koregisseur Wolfgang Kohlhaase hat für den Anfang des 1980 erschienenen Films den wohl prägnantesten Dialog der Defa-Geschichte geschrieben. Sunny im Bademantel, morgens, Blick Richtung Bett: »Is‘ ohne Frühstück.« Mann (Michael Christian): »Wat soll denn det? Deinetwejen bin ick extra nich‘ arbeiten jejangen.« Sunny: »Ist ja auch ohne Diskussion.« Mann: »Det find‘ ick aber ausjesprochen unfreundlich.« (Pause) »Warum hast’n mich denn mitjenommen?« (Pause, inzwischen aufgestanden) »Wo issen det Klo?« Sunny: »‘Ne halbe Treppe tiefer, da ist der Schlüssel.« (Pause) »Möchst’n Kaffe?« Mann: »Wat soll ick mit Kaffe?« (geht ab).
Mehr kann man auf diesem knappen Raum über die Mentalität in der DDR kaum ausdrücken. Sunny ist kein Hotel, die Leistung der zusammen verbrachten Nacht hat beidseitig zu stimmen, die Arbeitsabstinenz des Mannes ist ohne gravierende Sanktion möglich (wenn sich auch Diskussionen über Arbeitsmoral anschließen müssten, die den Sozialismus weit mehr treffen als den Kapitalismus), es gibt Informationen über die Wohnraumstruktur, und schließlich ist Kaffee am Morgen offenbar auch nicht jedermanns Sache.
Ins Analytische gewendet heißt das: Frauen in der DDR ließen sich weder alles gefallen noch waren sie unselbständig. Männer konnten schon damals verunsichert werden. Das Fernbleiben vom Arbeitsplatz ließ sich verkraften (ein Unding unter kapitalistischen Verhältnissen, zumindest im Wiederholungsfalle). Eine Außentoilette war im Altbau nichts Ungewöhnliches, weshalb die bald als »Platte« verrufenen Neubauwohnungen auch so begehrt waren. Entscheidend ist aber der moralische Zugriff auf die Alltagsbeziehungen: Niemand hat behauptet, dass es einfach ist, aber niemand kann behaupten, dass sich hier Personen bewegen, die nicht mit Geist, Haltung und Bewusstsein ausgestattet sind. Der Film entfaltet in seiner Einfachheit und seinem Verständnis für Gefühl und Verstand der Protagonisten ein authentisches Porträt über den Lebenszustand der mittleren DDR-Generation am Beginn der 1980er Jahre.
Der Werkzusammenhang wäre unvollständig, wenn nicht noch auf die sechsteilige Dokumentation »Busch singt – Sechs Filme über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts« zumindest hingewiesen würde, die 1982 im Auftrag der Akademie der Künste der DDR unter der künstlerischen Oberleitung von Konrad Wolf entstanden ist. Der Regisseur war von 1965 bis zu seinem Tode der immer wiedergewählte Akademiepräsident und verantwortete den 3. Teil »1935 oder das Faß der Pandora« und den 5. »Ein Toter auf Urlaub« selbst, während er die Entstehung des 6. Teils »Und weil der Mensch ein Mensch ist« nicht mehr erlebte. Die Lebens- und Kampfkraft des Revolutionärs, Sängers und Schauspielers Ernst Busch (1900–1980) bekam in dem Filmzyklus ein würdiges Erinnerungsausrufezeichen und bezeugte einmal mehr den Stellenwert der Geschichte im künstlerischen Wirken von Konrad Wolf, die für ihn nie als abgeschlossen galt.
Kurz vor seinem zu frühen Tod im März 1982 formulierte Wolf eine Art geistiges Testament. Darin heißt es: »Über allem steht die Eigenverantwortung als unlösbarer Bestandteil der politisch-ideologischen Gesamtverantwortung des großen Kampfbündnisses der deutschen Kommunisten. Diese Verantwortung voll wahrzunehmen, bedeutet Mut und Risikofreudigkeit. Sie bedeutet auch politische, philosophische Nüchternheit, Klarheit und Realitätsgefühl. Diese Fähigkeit wünsche ich mir, wünsche ich uns allen für heute, für morgen.«
Detlef Kannapin schrieb an dieser Stelle zuletzt am 26. Juni 2025 über das Buch »Blödmaschinen II. Die Fabrikation der politischen Paranoia« von Markus Metz und Georg Seeßlen: »Paranoia aus der Maschine«
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Wer die steile Karriere dieses »Wende«-Renegaten etwas verfolgt hatte, den konnte das kaum wundern. Laut seinem Buch »Spionagechef im geheimen Krieg« (deutsche Ausgabe München 1997) wollte er bereits 1990 für die CIA einen »Maulwurf« im KGB enttarnen. Wolf wollte daraus ein gutes Geschäft für sich machen und bestand auf einer »verdeckten Zusammenarbeit«. Ein Verlag oder eine Filmgesellschaft sollten ihn zur Vermarktung seines Buches in die USA einladen. Die CIA wollte jedoch Wolfs sofortige Bereitschaft. Daran scheiterte das Vorhaben dann.
Bei der Vermarktung seines Buches unterwarf er sich, ganz offensichtlich aus Gründen der Honorarhöhe, den Bedingungen des New Yorker Random House, dem er die Weltrechte und die Filmrechte überließ. Das Buch erschien, von Ghostwritern auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten, in Lizenzausgaben in vierzehn Ländern in elf Sprachen. Für die englischsprachige Ausgabe »The man without a face« (Der Mann ohne Gesicht) engagierte Wolf als Koautorin Anne McElvoy, von 1988 bis 1992 Korrespondentin der Londoner Times in der DDR bzw. Berlin. Die damals 31jährige McElvoy brüstete sich in der FAZ im Juni 1997 als sein »moralischer Fitnesstrainer« und nannte ihn ein »Monstrum«. Wolf konnte sich trösten, denn mit dem Buch soll er zweistellige Millionenbeträge eingefahren haben. Als die Welt am Sonntag ihm in einem Artikel »Besuch bei Markus Wolf« und »Bis morgen, Karl« (26. 11, 3. 12, 2000) einen mit viel Lob geschmückten Beitrag widmete, bescheinigte er ihr dafür, dass der Sozialismus »ein deformiertes System war« und die Jahre nach dem Untergang der DDR zwar die »vielleicht schwersten« aber auch »die schönsten« seines Lebens waren.