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Aus: Ausgabe vom 17.10.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Streikrecht

Deutsche Ignoranz

Ist das Streikrecht durch eine Bestimmung der Internationalen Arbeitsorganisation völkerrechtlich geschützt? Der Internationale Gerichtshof soll das jetzt prüfen
Von Benedikt Hopmann
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Wäre in Deutschland nicht erlaubt: Ein 24stündiger Generalstreik in Griechenland gegen die Ankündigung der Regierung, den Arbeitstag zu verlängern (Athen, 1.10.2025)

In Griechenland haben Gewerkschaften am 14. Oktober zum Generalstreik gegen die Verlängerung der täglichen Arbeitszeit auf maximal 13 Stunden aufgerufen, in Belgien zum Streik gegen die geplanten Kürzungen der Renten und in Italien wenige Tage vorher gegen den Völkermord im Gaza. Und die Behauptung, politische Streiks seien nie erfolgreich, wird durch das jüngste Angebot der französischen Regierung widerlegt, die Erhöhung des Renteneintrittsalters bis Anfang 2027 auszusetzen. Dagegen waren die Beschäftigten immer wieder während ihrer Arbeitszeit auf die Straße gegangen.

Ist es nicht merkwürdig, dass über diese politischen Streiks berichtet, aber nie gesagt wird, dass so etwas in Deutschland von vornherein illegal sein soll? Das deutsche Arbeitsrecht verstößt damit seit Jahrzehnten nicht nur gegen die Europäische Sozialcharta, sondern auch gegen das Übereinkommen Nr. 87 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Das deutsche Arbeitsrecht ist permanenter Völkerrechtsbruch.

Mindeststandards bestimmen

Gleichzeitig geht das Kapital aller Länder seit rund zehn Jahren auch direkt und aktiv gegen das Streikrecht als Völkerrecht vor. Aus diesem Grund hat der Verwaltungsrat der ILO gegen die Stimmen der Kapitalseite den Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag angerufen. Der Gerichtshof soll in einem Gutachten folgende Frage beantworten: Ist das Streikrecht der abhängig Beschäftigten und ihrer Organisationen durch das Übereinkommen über die Vereinigungsfreiheit (Nummer 87) geschützt?

Zur Vorbereitung seines Gutachtens hat der Gerichtshof zwischen dem 6. und dem 8. Oktober 2025 Regierungen, Gewerkschaften und Unternehmerverbände angehört. Zum besseren Verständnis im Folgenden einige Hinweise zu den Akteuren und zur Vorgeschichte dieses Rechtsstreits: Der Internationale Gerichtshof in Den Haag, eine Einrichtung der UNO, dürfte vielen Menschen dadurch bekannt sein, dass er auf Antrag von Südafrika wichtige Beschlüsse gegen die israelische Regierung fasste. Im Jahr 2024 hatten die UN-Richter Israel verpflichtet, alles zu tun, um einen Völkermord zu verhindern und humanitäre Hilfe zuzulassen.

Die Internationale Arbeitsorganisation ist die älteste Sonderorganisation der UNO. 1919 gegründet, ist sie deutlich älter als die Vereinten Nationen selbst. Sie vereint Regierungen, Gewerkschaften und Unternehmerverbände von 187 Staaten. Diese dreigliedrige Struktur (Staat, Arbeit und Kapital) ist charakteristisch für die ILO.

Die Übereinkommen, die im Rahmen der ILO verhandelt und abgeschlossen werden, haben das Ziel, durch Mindeststandards weltweit die Arbeitsbedingungen zu verbessern. So legt das Übereinkommen Nummer 1 aus dem Jahr 1919 Höchstarbeitszeiten in der Industrie fest: den Achtstundentag und die 48-Stunden-Woche. Deutschland ratifizierte dieses Übereinkommen übrigens nie, und die gegenwärtige Bundesregierung will den Achtstundentag, eine der größten Errungenschaften der Novemberrevolution, ganz abschaffen.

Im Rahmen der ILO wurden nicht nur Übereinkommen zu Mindestarbeitsbedingungen vereinbart, die ILO lässt auch über eigene Kontrollausschüsse, die mit Sachverständigen meist aus dem akademischen Bereich besetzt werden, die Einhaltung dieser Übereinkommen überprüfen, zum Beispiel anhand der Berichte, die die Staaten regelmäßig bei der ILO einreichen müssen. Das ist vor allem die Aufgabe des Committee of Experts on the Application of Conventions and Recommendations (CEACR).

Das ILO-Übereinkommen Nr. 87 garantiert seinem Wortlaut nach nur die Freiheit, sich in Vereinigungen zusammenzuschließen. Die zuständigen Kontrollausschüsse der ILO legen jedoch schon seit Jahrzehnten dieses Übereinkommen so aus, dass damit auch das Streikrecht geschützt wird. Das Bundesarbeitsgericht hat diesen Zusammenhang in dem Satz zusammengefasst: »Tarifverhandlungen ohne Streikrecht wären kollektives Betteln.« Die ILO beschränkt jedoch den Zusammenhang zwischen Vereinigungsfreiheit und Streikrecht nicht auf die Notwendigkeit, in Tarifverhandlungen Druck auszuüben, und erlaubt auch politische Streiks. Das gilt jedenfalls dann, wenn sie wirtschafts- oder sozialpolitische Ziele verfolgen. Zudem erlaubt die ILO auch Proteststreiks zur Meinungsbekundung zu allgemein politischen Themen: zum Beispiel gegen den Völkermord Israels in Gaza oder gegen die Aufrüstung und Militarisierung der deutschen Gesellschaft. Proteststreiks zeichnen sich durch ihre Befristung aus. Es geht um Streiks, die maximal auf einen Tag befristet sind. Und auch verbandsfreie (»wilde« oder »wild-cat«) Streiks sind nach der ILO erlaubt.

Arbeitsgericht bleibt stur

Der Deutsche Bundestag hat dem ILO-Übereinkommen Nr. 87 zur Vereinigungsfreiheit schon vor Jahrzehnten zugestimmt. Es wurde auch ratifiziert. Doch das Bundesarbeitsgericht ignoriert die Stellungnahmen der ILO und hält bis heute – in offensichtlichem Widerspruch zu den Auffassungen der ILO-Ausschüsse – daran fest, dass weder Streiks zur Verbesserung der Wirtschafts- und Sozialpolitik noch allgemein politische Proteststreiks erlaubt sein sollen.

Den Unternehmerverbänden sind diese Auslegungen der zuständigen Kon­trollausschüsse, die mit ihren Stellungnahmen das Verständnis für die Vereinigungsfreiheit über Jahrzehnte weiterentwickelt haben, schon lange ein Dorn im Auge. Vor rund zehn Jahren eskalierte der Streit in der ILO: Die Kapitalseite wollte nicht mehr zulassen, dass der schon erwähnte ILO-Ausschuss CEACR mehrere Verstöße gegen das Streikrecht rügte. Den Unternehmerverbänden passt die ganze Richtung nicht. Schon die seit Jahrzehnten geübte Lesart der ILO-Ausschüsse, dass das Übereinkommen Nr. 87 auch das Streikrecht schützt, wollen sie nicht mehr gelten lassen, und auch nicht mehr das Recht dieser Ausschüsse, überhaupt das Übereinkommen auszulegen. Die Ausschüsse sollten sich darauf beschränken, die Einhaltung des Übereinkommens zu überprüfen.

Doch was ist damit gemeint? Denn es ist unvermeidbar, dass das Übereinkommen ausgelegt wird, wenn seine Einhaltung überprüft wird. Das eine geht nicht ohne das andere. Die Frage der Einhaltung eines Vertrages geht immer mit der Frage einher, um welche Verpflichtung es sich handelt, die nach dem Vertrag eingehalten werden muss. Würden die ILO-Ausschüsse der Kapitalseite folgen, dass das Übereinkommen nur die Bildung von Vereinigungen, nicht aber das Streikrecht schützt, und deswegen zum Beispiel nicht mehr überprüft werden soll, ob ein Staat einen politischen Streik verbieten durfte, wäre auch das eine Auslegung des Übereinkommens Nr. 87, nur eben im entgegengesetzten Sinne wie bisher. Dann wäre die ILO nie dazu gekommen, überhaupt das Streikrecht anzuerkennen.

Mit der Attacke auf das Übereinkommen Nr. 87 stürzte die Kapitalseite die ILO in eine schwere Krise. Es folgten Jahre des Stillstandes in diesem Konflikt. Dann entschied der Verwaltungsrat der ILO, die eingangs genannte Frage an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu richten.

Wie lange noch?

Sollte der Internationale Gerichtshof die bisherige Auslegung bestätigen, wäre das eine Stärkung der ILO-Ausschüsse. Das war die Position der spanischen ILO-Vertreterin während der Anhörung vor dem Internationalen Gerichtshof. Eine entsprechende Anerkennung durch den IGH würde den Druck auf die deutschen Arbeitsgerichte erhöhen, diese Ausschüsse und ihre Stellungnahmen nicht weiter zu ignorieren. Die deutsche Vertreterin bestand jedoch in derselben Anhörung darauf, dass der Schutz der Vereinigungsfreiheit zwar auch das Streikrecht schützen müsse, aber nur insoweit für die Durchsetzung tarifvertraglicher Regelungen gestreikt wird. Der deutsche Staat will also weiter die ILO-Standards für Streiks ignorieren.

Soll das hierzulande also immer so weitergehen, dass die Gewerkschaften gegen die Politik der Herrschenden protestieren, aber nicht mit den Mitteln des Streiks? Und das, obwohl die Militarisierung die ganze Gesellschaft zu durchdringen beginnt, Erkämpftes mit einem Federstich beseitigt und die politische Rechte immer stärker wird? Warum soll in Deutschland verboten sein, was in Spanien und Frankreich erlaubt ist? Es gibt keinen anderen Weg, als dass die Beschäftigten aktiv werden. »Dass du dich wehren musst, wenn du nicht untergehen willst, wirst du doch einsehen« (Bertolt Brecht).

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