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Aus: Ausgabe vom 24.05.2025, Seite 9 / Kapital & Arbeit
Arbeitskämpfe in Argentinien

Generalangriff aufs Streikrecht

Argentiniens Regierung will Arbeitsniederlegungen praktisch komplett verbieten. Gewerkschaften im Widerstand
Von Frederic Schnatterer
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Polizisten prügeln während des Protests gegen die Kahlschlagpolitik Javier Mileis in Buenos Aires (21.5.2025)

Es ist bereits der zweite Versuch. Während am Mittwoch vor dem Kongressgebäude in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires zum wiederholten Male protestierende Rentner niedergeknüppelt wurden, veröffentlichte die Regierung von Javier Milei ein Dekret, mit dem das Streikrecht praktisch ausgesetzt werden soll. Arbeitsrechtler bezeichneten die Maßnahme als verfassungswidrig. Gewerkschaftsdachverbände wie die CGT kündigten Widerstand und Klagen vor den Gerichten des südamerikanischen Landes an.

Der Minister für Deregulierung, Federico Sturzenegger, bedient sich dabei eines Taschenspielertricks. So definiert das Dekret eine lange Liste an »essentiellen« Tätigkeiten, in denen im Falle einer Arbeitsniederlegung einer störungsfreier Ablauf von mindestens 75 Prozent der Aktivitäten garantiert sein muss. Darunter fallen fortan der Gesundheitsbereich, das Bildungswesen, Luft- und Seeverkehr, die Kinderbetreuung, die Gas- und Brennstoffproduktion sowie -verteilung, Zoll- und Migrationsdienste sowie das gesamte Telekommunikationswesen. Bereits zuvor hatte das Gesetz mehrere Tätigkeiten als »essentiell« eingestuft. Die Liste war jedoch deutlich reduzierter als die jetzige.

Außerdem schafft das Dekret eine weitere Kategorie. Unter »Tätigkeiten von weitreichender Bedeutung« werden Aktivitäten wie Logistik, Bergbau, Landwirtschaft, Gastronomie oder das Transportwesen verstanden. Auch der Finanzsektor, das Bankenwesen oder alle mit dem Export verbundenen Tätigkeiten fallen darunter. Die gesamte Liste ist noch deutlich länger. In derart definierten Bereichen dürfen Streikmaßnahmen nicht mehr als 50 Prozent der Tätigkeiten beeinträchtigen.

Damit sind praktisch alle wirtschaftlichen Tätigkeiten von den erheblichen Einschränkungen betroffen. Hinzu kommt: Eine neugeschaffene »Garantiekommission« kann künftig noch weitere wirtschaftliche Aktivitäten als »essentiell« oder »von weitreichender Bedeutung« definieren. Ein Grund dafür, der im Dekret explizit genannt wird, kann sein, dass eine Arbeitsniederlegung »die Ziele der Steuererhebung im Zusammenhang mit der Politik des Haushaltsgleichgewichts beeinträchtigen könnte«. Zwar heißt es, die Kommission solle »unabhängig« sein und »autonom« agieren. Wer genau über ihre Zusammensetzung entscheidet, ist jedoch unklar.

Bereits kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident hatte Milei Ende 2023 einen Generalangriff auf das Streikrecht gestartet. Die Maßnahme – eine von insgesamt 366 sogenannten Eil- und Notdekreten (Decreto de necesidad y urgencia, DNU) – wurde allerdings zunächst nach einem Einspruch der Gewerkschaften pausiert. Im August 2024 kassierte die Justiz des Landes die Regelung endgültig. Sie argumentierte damals, eine derartige Beschränkung verletze die Rechte auf Gewerkschafts- und Versammlungsfreiheit, auf Tarifverhandlungen und Arbeitsniederlegungen.

Den erneuten Versuch der Änderung des Arbeitsrechts versteckte die Regierung nun kurioserweise in einer Deregulierungsmaßnahme für die Handelsmarine. In deren dritten Artikel wiederholt die Regierung größtenteils die Formulierungen, die im August des vergangenen Jahres von der argentinischen Justiz kassiert worden waren. Auch deswegen gehen Experten im Arbeitsrecht und Gewerkschaften davon aus, dass der erneute Angriff abermals von den Gerichten des Landes gestoppt werden wird. Der wichtigste Gewerkschaftsdachverband des Landes CGT teilte noch am Mittwoch mit, »angesichts dieses schwerwiegenden Vorstoßes einer Regierung, die beabsichtigt, die so hart erkämpften und verteidigten Rechte wieder einmal auszulöschen, nicht zu schweigen«. Die »organisierte Arbeiterbewegung« werde »die Kämpfe führen, die sie kämpfen muss, sei es vor Gericht, auf der Straße oder am Arbeitsplatz«.

Die Menschenrechtsorganisation CELS bezeichnete »die enorme Anzahl der vom Erlass betroffenen Aktivitäten« als »einen Eingriff in die Rechte praktisch aller Erwerbstätigen des Landes«. Das stelle einen klaren Verstoß gegen die verfassungsmäßig verbrieften Rechte dar. Weiter heißt es in der CELS-Erklärung: »Die Entscheidung der Regierung zielt nicht darauf ab, das Leben der Bevölkerung zu schützen.« Vielmehr gehe es Milei und Co. darum, die von ihr angestrengten Anpassungsmaßnahmen vor Protesten und Widerstand gegen eben diese zu schützen. »Deshalb sind Streiks und Proteste mehr denn je ein Recht, das es zu schützen gilt.«

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