Modell Kettenbefristung auf der Kippe
Von Jessica Reisner
Das Kölner Arbeitsgericht fällte am 9. Oktober 2025 ein Urteil zur Rechtmäßigkeit von Befristungen, das möglicherweise viele zu Unrecht sachgrundlos befristet Angestellte betreffen könnte. Die Vorsitzende Richterin Brigitta Liebscher der 12. Kammer hatte über die Kündigungsschutzklage eines Angestellten des Cinenova-Kinos in der Domstadt zu entscheiden.
Mit einer Lücke von wenigen Tagen zwischen seinen beiden sachgrundlos befristeten Anstellungen hatte der Kinoenthusiast als Filmvorführer und im Marketing für das Cinenova seit August 2023 gearbeitet. Im April 2025 feuerte ihn die Kinoleitung fristlos, nachdem er mit Kolleginnen über eine Betriebsratsgründung gesprochen hatte. Nun steht fest: Das Beschäftigungsverhältnis endete weder durch die fristlose Kündigung, die wegen eines Formfehlers hinfällig war, noch durch die Befristungsabrede.
Welche Tragweite diese Entscheidung haben würde, dürfte den solidarischen Prozessbeobachtern spätestens klar geworden sein, als Richterin Liebscher den Gekündigten fragte, ob er lieber Rechtsgeschichte schreiben oder eine Abfindung nehmen wolle. Für den gescheiterten Betriebsratsgründer eine leichte Entscheidung. Wer wollte nicht Rechtsgeschichte zugunsten Lohnabhängiger schreiben?
Zuvor hatte Richterin Liebscher bereits ausgeführt, dass zwei aufeinanderfolgende sachgrundlose Befristungen nur in seltenen Ausnahmefällen statthaft sind. Zu diesen Ausnahmen gehört etwa eine deutliche Unterscheidung der zweiten sachgrundlos befristeten Anstellung von der vorherigen. Diese unterschiedliche Prägung habe in Urteilen des Bundesarbeitsgerichts, die eine zweite Befristung beim selben »Arbeitgeber« möglich machten, in einer geänderten, besseren Qualifikation der Angestellten und einer entsprechend höheren Bezahlung bestanden. Beschäftigte hatten in diesen Fällen beispielsweise eine Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen.
Beides sah die Richterin im Fall Cinenova nicht gegeben. Der gekündigte Kölner Filmvorführer hatte als Aushilfe bei beiden Anstellungen Aufgaben, die in wenigen Tagen zu erlernen sind. Und die Kinoleitung hatte ihm auch im zweiten Beschäftigungsjahr kaum mehr als den Mindestlohn gezahlt.
Eine Praxis, die im Kino Cinenova üblich ist, wie der Kölner Verein »Aktion gegen Arbeitsunrecht«, der die Kündigungsschutzklage begleitete, in Gesprächen mit ehemaligen Beschäftigten feststellte. Und ehemalige Cinenova-Angestellte gibt es nach einer »Säuberungswelle« seitens der Geschäftsführung reichlich.
Denn die Kinoleitung feuerte innerhalb kurzer Zeit nicht nur den Filmvorführer, sondern auch noch sechs weitere Beschäftigte, nachdem sie im Frühling 2025 besagte Betriebsratsgründung ins Auge gefasst hatten, um ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Neben Arbeit auf Abruf, die auf ein unplanbares Einkommen hinausläuft, und Problemen bezüglich Lohnfortzahlung bei Urlaub und Krankheit waren die sachgrundlosen Kettenbefristungen durch das Kino Hauptkritikpunkt der engagierten Kollegen und Kolleginnen.
Diese Geschäftspraxis steht nach dem Urteil vom 9. Oktober nun auf der Kippe. Und das dürfte weit mehr Lohnabhängige betreffen. Denn wie viele Angestellte mögen in Deutschland in einem zweiten oder gar dritten sachgrundlos befristeten Arbeitsverhältnis im selben Unternehmen zu gleichen Konditionen arbeiten? Da weiß auch die künstliche Intelligenz keine Antwort. Was hingegen bekannt ist: 2024 waren laut Statistischem Bundesamt sieben Prozent der über 25 Jahre alten Angestellten befristet beschäftigt. Laut dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erhielten 2023 aber 48,4 Prozent der unter 25jährigen befristete Verträge.
Jessica Reisner ist Campaignerin beim Verein »Aktion gegen Arbeitsunrecht« in Köln
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