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Aus: Ausgabe vom 10.10.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Ukraine-Krieg

Moskaus Weltsicht

Ein Papier des Waldai-Klubs skizziert, wie sich die globale Lage aus russischer Perspektive verändert hat
Von Reinhard Lauterbach
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Hält gern lange Vorträge, hier auf dem Waldai-Forum in Sotschi: Wladimir Putin (2.10.2025)

Das 30seitige Papier des renommierten russischen Thinktanks »Waldai-Diskussionsklub« ist kurz vor dem Auftritt von Wladimir Putin auf der diesjährigen Plenarsitzung des Klubs am 2. Oktober in Sotschi veröffentlicht worden. Es trägt den ironisch-spielerischen Titel »Dr. Chaos oder Wie man aufhören kann, sich Sorgen zu machen, und die Unordnung lieben lernt«. Das ist eine Anspielung auf Stanley Kubricks Katastrophensatire »Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben«. Auch das Motto des Texts spielt auf Verunsicherung an. Es ist ein Shakespeare-Zitat aus dem »Hamlet«: »Our wills and fates do so contrary run / That our devices still are overthrown; / Our thoughts are ours, their ends none of our own«. Frei übersetzt: Unser Wille und unser Schicksal gehen so weit auseinander, dass unsere Absichten ständig umgestürzt werden; wir denken zwar selbst, aber das Ergebnis bestimmen wir nicht. Zudem sind Ähnlichkeiten zu dem berühmten Marx-Zitat aus der »Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie« darüber, dass die Menschen ihre Geschichte zwar selbst machen, aber nicht unter selbstbestimmten Bedingungen, sondern unter dem Einfluss der Produktionsverhältnisse, unübersehbar – wenngleich bei den russischen Autoren nur skizziert wird, was das bestimmende Element sei, das die Welt im Innersten zusammenhalte bzw. ihre Entwicklung bestimme.

Nach ihrer Auffassung ist die bipolare Weltordnung des Kalten Krieges durch die Selbstaufgabe der So­wjetunion überholt; die unipolare der Zeit nach 1991 zerbrochen und nicht wiederherstellbar. Die Autoren betonen – darin sind sie gute Dialektiker –, dass das Ende der unipolaren Weltordnung unter dem Druck innerer Widersprüche erfolgt sei, die deren Macher im Interesse ihrer einseitigen Interessenpolitik selbst herangezüchtet hätten. Die von ihnen im Interesse der Mehrung der Kapitalprofite vorangetriebene Globalisierung habe neue Akteure hervorgebracht, die sich von den alten Herren der Welt nicht mehr alles sagen lassen wollten. Natürlich haben die Autoren bei dieser Analyse in erster Linie China im Blick. Doch sie verweisen auch auf andere Staaten und internationale Organisationen, vor allem aus dem globalen Süden: in erster Linie die BRICS-Partner Russlands, deren Gruppe sich über zehn weitere Staaten anschließen wollen. Genannt werden aber auch regionale Strukturen wie die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, ursprünglich 1992 als Schutz-und-Trutz-Bündnis zwischen Russland, China und den zentralasiatischen Exsowjetrepubliken gegründet und inzwischen Ausrichter politischer Selbstdarstellungen des globalen Südens (Russland spricht gern von der »globalen Mehrheit«), wie zuletzt beim Gipfel in Tianjin Anfang September. Die EU kommt dagegen nur an einer Stelle vor, geringschätzig als »Außenstelle der USA« bezeichnet, die ihre politische Subjektivität verloren habe.

Nach Ansicht der Autoren führt die Zunahme der Zahl politischer Akteure zwar einerseits zu einer größeren Unübersichtlichkeit der internationalen Lage. Das sei moralisch gerechtfertigt, weil es eben mehr Staaten gebe, die alle das Recht hätten, die Berücksichtigung ihrer Interessen zu verlangen. Auf der anderen Seite sei die Vielfalt der Akteure ein stabilisierender Faktor, weil sich die Einflüsse der einzelnen von ihnen gegenseitig austarierten und ständige Verhandlungen und Abstimmungen verlangten. Die Rolle der klassischen Diplomatie werde deshalb – im Unterschied zum Aufdrängen vermeintlich allgemeingültiger Vorschriften im Rahmen der »regelbasierten Weltordnung« – zunehmen. Und da ein militärischer Angriff auf eine atomare Supermacht heute aussichtslos sei, sei auch die Gefahr eines großen Krieges »gleich null«.

Nun ja, da mag – verschanzt hinter dem russischen Atomwaffenarsenal – auch der Wunsch der Vater des Gedankens sein und die Sichtweise der Autoren womöglich von der Wahrnehmung anderer politischer Akteure abweichen, die sich nach wie vor dem Druck »ungleicher Machtverhältnisse« ausgesetzt sehen. Noch weiter ins Hypothetische wagen sich die Autoren, wenn sie als Leitlinie künftiger Politik die Vermeidung von Revolutionen und sonstiger »sozialer Instabilität« nennen. Russland zum Beispiel werde alles tun, um nicht ausprobieren zu müssen, wie weit die Loyalität seiner Gesellschaft im Kriegsfall gehe. Da führt sicherlich das historische Beispiel des Zusammenbruchs des Zarenreiches im Ersten Weltkrieg den Autoren die Feder. Andererseits passt diese Diagnose dazu, wie Wladimir Putins Russland viel tut, damit die Lasten des Ukraine-Krieges nicht bei der Masse der Bevölkerung in Erscheinung treten. Auf der anderen Seite ist die Analyse der russischen Autoren auch für Marxisten ein bisschen tröstlich: Wenn der Hauptinhalt der Politik die Verhinderung revolutionärer Veränderungen sein soll, heißt das ja andersherum, dass der »alte Maulwurf« (Karl Marx) der Revolution unter der Oberfläche einer versteinert scheinenden Herrschaft weiterhin sein Wesen treibt.

Russlands deutsche Freunde

Am 7. Oktober wäre die DDR 76 geworden; Wladimir Putin wurde am gleichen Tag 73. Aus diesem Anlass veranstaltete der rechte Medienunternehmer Jürgen Elsässer in Berlin einen Empfang zu Ehren des russischen Präsidenten, den sich auch Botschafter Sergej Netschajew nicht entgehen ließ: Er nehme gern die Gelegenheit wahr, Putin auch in Deutschland zu ehren, erklärte er im Anschluss. Elsässer pries Putin als »Staatsmann« und vermarktete eine Gedenkmedaille, die nach seinen Angaben im Onlineshop seines Magazins Compact schon 3.800 Abnehmer gefunden habe. Auch etliche AfD-Politiker aus ostdeutschen Landtagen waren bei der Veranstaltung anwesend. Die FAZ notierte am Mittwoch, Elsässer sei »in Smoking und Lackschuhen« aufgetreten – sollte wohl heißen: Ein Lackaffe ist das. Wenn er in Jeans und Turnschuhen erschienen wäre, hätte es der FAZ wohl auch nicht gefallen.

Dass Russland mit der europäischen Rechten flirtet – und vermutlich auch mehr als das –, ist schon länger bekannt. Klassisches Beispiel dafür ist der Millionenkredit einer russischen Bank für den französischen Front National (heute Rassemblement National) vor einigen Jahren. Politiker der Partei werden regelmäßig von russischen Nachrichtenagenturen zitiert. Dabei wird die Parteizugehörigkeit häufig verschwiegen, um den Eindruck zu erwecken, die Stimmung im französischen Parlament sei so, wie in der Meldung zitiert. Ähnliche Beachtung finden auch Abgeordnete der AfD, die zum Beispiel die Volksrepubliken des Donbass besuchten oder die Meinung vertreten, der Ukraine-Krieg sei nicht Deutschlands Krieg.

In Brandenburg zog derweilen das BSW Kritik der übrigen Parteien auf sich, weil es ebenfalls Botschafter Netschajew in den Landtag eingeladen hatte. Anlass war eine Ausstellung zu Ehren der Antifaschisten Hans und Lea Grundig. Netschajew erklärte im Anschluss, er habe sich in Potsdam »wie unter Freunden« gefühlt und fühle sich keinesfalls isoliert. (rl)

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