Verdrängt und ohne Rechte
Von David Siegmund-Schultze
Der Tatbestand des Eigenbedarfs bei Mietverhältnissen ist ein Segen für Vermieter – für Mieter in der Regel ein Fluch. Denn der Anspruch ist sehr weit gefasst. Eigenbedarf kann sogar für entfernte Verwandte und für allerlei Zwecke abseits des Wohnens geltend gemacht werden: Etwa für Büroräume oder eine Zweit- oder Ferienwohnung. Hinzu kommt: Vor Gericht zählt ausschließlich die Intention des Vermieters bis zum Ablauf der Kündigungsfrist. Falls dieser es sich danach anders überlegt – egal. Und die Beweislast liegt beim Mieter. Doch nachzuweisen, dass die Absicht des Vermieters gar nicht darin bestand, in die Wohnung einzuziehen, ist fast unmöglich.
Ein Urteil des Bundesgerichtshofs vergangene Woche hat die Vermieterrechte abermals gestärkt. Ein im selben Haus wohnender Vermieter hat seinem Mieter wegen Eigenbedarfs gekündigt, weil er seine eigene Wohnung umbauen und daraufhin verkaufen möchte. Das Urteil: Der Wunsch des Vermieters, möglichst teuer zu verkaufen, wiegt demnach mehr als das Wohnrecht des Mieters. Neu ist also, dass Gewinnabsichten Eigenbedarf begründen können. Zuvor hatte das Landgericht Berlin noch entschieden, dass dies nicht möglich ist.
Die Folge dieses für Eigentümer gemachten Rechts: Gerade in Großstädten, wo Mietpreise in den vergangenen Jahrzehnten explodiert sind, können Vermieter fast nach Belieben Menschen aus ihren Wohnungen mit alten, günstigen Mietverträgen verdrängen, um diese dann teurer zu weiterzuvermieten. Die Betroffenen finden zumeist keine vergleichbare Bleibe; einige landen in der Wohnungslosigkeit. »Die Nachfrage für Beratung bei Eigenbedarfskündigungen ist in den vergangenen Jahren um 30 bis 50 Prozent gestiegen«, sagte Jutta Hartmann vom Deutschen Mieterbund (DMB) am Mittwoch im jW-Gespräch. »Wir gehen davon aus, dass der Eigenbedarf etwa bei der Hälfte der Fälle vorgeschoben sein könnte.« Denn es ist das einzige Mittel, vertragstreue Mieter loszuwerden und damit die Einnahmen zu steigern. Auch die Mietpreisbremse ändert daran häufig nichts: »Es gibt zu viele Ausnahmen, etwa bei Sanierungen und Neubau. Außerdem halten sich viele Vermieter nicht an die Vorgaben, ohne eine wirkliche Strafe fürchten zu müssen«, so Hartmann.
Björn Wagner erleidet den Horror wiederholt. Der Musiker lebt schon lange in einer günstigen Zwei-Zimmer-Wohnung in zentraler Lage in Berlin. Vor drei Jahren drohte ihm seine Vermieterin, eine bekannte und vielseitig »sozial engagierte« deutsche Schauspielerin, mit Eigenbedarf. Zuvor habe sie die Wohnung jahrelang verkommen lassen: »Ich konnte zwei Jahre nicht richtig heizen und das Bad nicht wirklich benutzen«, sagte Wagner gegenüber jW. Nachdem er sich an die Presse gewendet und diese die Vermieterin mit den Vorwürfen konfrontiert hatte, sei die Kündigung sofort wieder vom Tisch gewesen: »Und zwei Tage später standen auf einmal die Handwerker vor der Tür.«
Doch nun hat der Alptraum wieder begonnen. Obwohl seiner Vermieterin klar sei, dass er die Wohnung auf keinen Fall aufgeben will, habe sie sie im Juli ihrer Tochter übergeben, die wenige Tage später Eigenbedarf ankündigt. Wagner bezweifelt, dass sie tatsächlich, wie behauptet, mit Mann und Kind in die Wohnung einziehen will. Von jW dazu befragt, kommt lediglich ein Schreiben ihres Staranwalts. Dieser droht juristische Konsequenzen bei etwaiger Berichterstattung zu seiner Mandantin an.
Geschlagen geben will sich Wagner nicht – und weiter mit allen Mitteln gegen die Kündigung vorgehen. Auch, wenn die Erfolgsaussicht vor Gericht gering ist. Das will der DMB ändern. Seit langem plädiert der Verband für eine Reform des Eigenbedarfs: »Der Tatbestand muss enger gezogen werden, er sollte nur für Vermieter und direkte Verwandte und ausschließlich für Wohnzwecke geltend gemacht werden dürfen«, so Hartmann. Außerdem müsse die Beweislast umgekehrt werden. Doch: »Momentan gibt es keine Pläne der Bundesregierung, an den Missständen zu arbeiten.«
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