Argentiniens sozialer Kahlschlag
Von Volker Hermsdorf
Was Argentiniens ultralibertärer Präsident Javier Milei als »Freiheitsrevolution« verkauft, hat das Land an den Rand des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs geführt. Knapp zwei Jahre nach Amtsantritt steht er, der sich selbst als Anarchokapitalist bezeichnet, vor dem Scherbenhaufen seiner Politik, die er einst mit Kettensäge in der Hand medial illustrierte. Die Armut wächst, der Peso stürzt ab, und Millionen Menschen werden schutzlos dem Markt ausgeliefert. Die Bilanz des Sozialkahlschlags ist verheerend: Von ursprünglich 50 Sozialprogrammen sind derzeit nur noch drei in Kraft, bilanzierte die Tageszeitung Página 12 am Montag.
Noch vor einem Jahr pries Milei den »größten Sparkurs der Menschheitsgeschichte«. Er versprach mehr Wohlstand durch radikale Maßnahmen: Bürokratieabbau, Privatisierungen und Steuersenkungen. Herausgekommen ist das Gegenteil. Der Peso verliert rapide an Wert, die Industrie kollabiert. Seit 2024 sind über 100.000 Arbeitsplätze verlorengegangen, vor allem im Baugewerbe, in der Metallverarbeitung und im Automobilsektor. Mileis Kettensäge trifft nicht die »politische Kaste«, sondern die arbeitende Bevölkerung und vor allem die Schwächsten: ältere Menschen, Behinderte und Kinder. Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt werden, sind noch schutzloser geworden. Strom, Gas, Wasser und Verkehr sind nach der Streichung aller Subventionen unbezahlbar. Reallöhne stürzen ab, die Inflation bleibt zweistellig.
Mehr als vier Millionen Menschen sind laut Página 12 von Streichungen betroffen. Als Folge ist die multidimensionale Armut von 39,8 auf 41,6 Prozent gestiegen, die strukturelle Armut von 22,4 auf 23,9 Prozent, konstatieren Wirtschaftsexperten. Was das bedeutet, zeigt sich auf den Straßen von Buenos Aires, Rosario oder Córdoba: Rentnerinnen, die in Mülltonnen nach Pfandflaschen suchen, Kinder, die in überfüllten Suppenküchen auf eine Mahlzeit warten, und Frauenhäuser, die wegen fehlender Mittel schließen. In manchen Vierteln sind bis zu 60 Prozent der Familien auf Gemeinschaftsküchen angewiesen – die jedoch ebenfalls um ihre Finanzierung fürchten müssen. Der »Sparstaat«, mit dem Milei seinen angeblichen Haushaltsüberschuss erkauft, hat die Unterstützung der Schwächsten eingestellt. »Der Staat hat sich aus dem Leben der Menschen zurückgezogen«, stellt der Soziologe Ariel Wilkis von der Universidad Nacional de San Martín fest. »Er existiert nur noch als Repressionsapparat.«
Mileis Zustimmungswerte sind im Keller, und mittlerweile bröckelt auch in der Wirtschaft die Unterstützung. Unternehmer, die ihn zunächst als »Heilsbringer« gefeiert hatten, kritisieren Chaos und Planlosigkeit. Ausländische Investitionen, mit denen der Präsident warb, bleiben aus. Exxon Mobil und Telefónica haben sich zurückgezogen. Über die Hälfte der öffentlichen Infrastrukturprojekte wurden gestoppt – Straßen verfallen, Baustellen verrotten, Schulen verarmen. Auch der Peso steht unter enormem Druck. Seit der Aufhebung der Kapitalverkehrskontrollen im Frühjahr 2025 verloren die Devisenreserven rapide an Wert. Allein in den ersten Wochen nach der Liberalisierung tauschten argentinische Bürger und Firmen Pesos im Wert von 14,7 Milliarden US-Dollar in harte Währungen um. Die Zentralbank reagierte mit einem Leitzins von 80 Prozent. Die Kreditkosten strangulieren Unternehmen und Haushalte. Kredite gibt es ohnehin nur noch für jene, die sie nicht brauchen – internationale Fonds, Spekulanten und Großkonzerne. Der Rest zahlt mit Armut.
Selbst internationale Förderer von Mileis Politik zeigen sich zunehmend zurückhaltend. Zwar versprach US-Präsident Donald Trump Finanzhilfen und sagte Kredite über 20 Milliarden US-Dollar zu, um »den Freiheitskampf in Südamerika« zu unterstützen, doch deren Auszahlung ist erst einmal blockiert. Der Haushaltsstreit in Washington, der jüngst zum ersten »Shutdown« der US-Regierung seit sieben Jahren führte, macht die Zusagen wertlos. Denn während Trump Geld verspricht, kann er im eigenen Land die Gehälter der Bundesbeamten nicht zahlen. Mileis Hoffnung auf den großen Dollar-Regen von der imperialen Macht im Norden, die selbst in der Krise steckt, steht damit auf wackligen Beinen.
Beobachter sehen Parallelen zur neoliberalen Ära der 1990er Jahre, als Präsident Carlos Menem den Sozialstaat zugunsten von Privatisierungen und Dollar-Bindung so lange stutzte, bis der Crash kam. Heute steht Argentinien erneut vor einem Szenario aus Rezession, Massenprotesten und möglichem Staatsbankrott. Mileis Kettensäge ist zum Symbol einer gescheiterten Regierung geworden, die ein soziales Trümmerfeld hinterlässt.
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