Stadion-Deathcore
Von Rüdiger Wartusch
Kurz vor dem ersten Lockdown im März 2020 besuchte ich mein letztes Konzert für die nächsten gut zweieinhalb Jahre: »Faces of Death«, ein wiederkehrendes internationales Package mehr oder minder bekannter Bands. Die wechselnden Kombinationen aus Death, Tech, Grind und Core für 29,40 Euro waren jedes Mal Schnapper. Doch ließ Covid schon grüßen, so dass die Tournee bald darauf abgebrochen werden musste.
Ohne Maske tummelten sich wenige hundert Leute in einem Club, in dem man glatt an die Decke fassen konnte. Ich war gekommen, um die Frankokanadier von Beyond Creation zu bewundern. Die haben noch nie ein schlechtes Lied eingespielt. Als Hauptact kamen die Todesmetaller Decapitated aus Polen, und auch die britischen Ingested und Viscera trugen ihren Teil bei. Das Ticket listete letztere bescheiden als »+ more«, genau wie Lorna Shore aus den USA, die damals als zweite Band auf die Bretter durften und, mehr wusste ich damals nicht, Deathcore spielen würden.
Aber man ist ja offen und hört Neues einigermaßen routiniert. Lorna Shore also: kurzes orchestrales Intro und breitestes Keyboard vom Band, schnelle, sehr schnelle Drums und ebenso rasante Rhythmusgitarren. Keine Hexerei, aber sauber, fast clean. Hart aber fair. Und Breakdowns im Bäckerdutzend. Dazu gesellten sich Melodien, die man im Metal nicht erwartet: getragen, sanft, zuckersüß. Von den Tasten zumal, der Leadgitarre, dazu eingängige Refrains.
Und dann dieser Sänger: Ein Knabe mit lockigem Haar, eine tätowierte Putte … mit einer Stimme direkt aus der Hölle? Eindrucksvoll, vom ersten Ton an. Wie passt das alles zusammen? Es gibt ja – im Black Metal vor allem – dieses Phänomen, dass die schnellen Anschläge fast verschwimmen und dass, wenn eine Melodie darüber schwebt, der Song auf einmal ganz langsam klingt. Das war hier auf höherer Ebene ganz ähnlich: brutal schnell und zugänglich zugleich. Im Bann des Drives, der Melodien und geflasht vor allem vom Sänger, war das für mich ein unerwartet emotionales Erlebnis.
Hinterher am Merchstand dem zweiten Gitarristen kurz das übliche »good job« und »great singer« zugeworfen und das neueste Album »Immortal« erstanden – obwohl der Sänger da noch gar nicht zu hören sei. Hängengeblieben war auf jeden Fall mehr als Corona.
Im Nachgang die notwendige Recherche: Lorna Shore aus New Jersey gibt’s schon seit zehn Jahren, drei Alben und drei EPs. Sie hatten gerade Ende 2019 ihren Sänger gefeuert, offenbar ein sexistisches, rassistisches Arschloch. Um die Europatour nicht absagen zu müssen, rekrutierte Bandboss Adam De Micco den damals unbekannten Will Ramos, einen erst 26jährigen Ami mit puerto-ricanischen Wurzeln. Optisch eher Surferboy als Schwermetaller, und wären da nicht die Tattoos bis unters Kinn, fast Typ Schwiegersohn. Seine Stimme aber: gutturalste Growls und schrillste Pig Squeals, mit einer Präzision und Leichtigkeit, die keinen Vergleich scheuen muss. Eine Naturgewalt, mit der die Band ein neues Level erreichte.
Mit Will Ramos kam der Durchbruch. Ein Musikvideo im Juni 2021, eine EP noch im selben Jahr, und das Ding war nicht mehr zu halten: Bombastische Kritiken, steigende Verkaufszahlen, und die Fangemeinde begann zu wachsen. Ebenso die Ziele der Band: Mit dem Album »Pain Remains« im Oktober 2022 und den Videos zum dreiteiligen Titelsong entstand ein emotionales Meisterwerk. Mich hat es umgeworfen.
Ja, dieser Death Core ist keyboardlastig, ja, das ist alles ziemlich geschliffen und porenrein poliert. Es ist eingängig und ergreifend, aber es ist nicht soft, nicht anbiedernd, nicht wimpy. Es bewahrt einen Black-Metal-Touch und erweitert dabei nicht nur die Grenzen der Band, sondern gleich des ganzen Genres. Lorna Shore sind durchweg symphonisch, oft orchestral, manchmal auch überraschend intim, aber immer kolossal. Der Knüppel fehlt nie lange. Hardlinern mag das zu clean sein, berechnend und überproduziert, kurz: zu sehr Pop. Wer das nicht mag, muss dennoch zugestehen, dass hier Blast Beats zum massenkompatiblen Phänomen werden, dass 32stel den Mainstream erreichen und Harsh Vocals für die ganz großen Emotionen sorgen. Das ist schon was.
Im November 2023 durfte ich sie wiedersehen, dann schon als Hauptact einer Tour durch mittlere Hallen (44,25 Euro), mit mehreren Vorbands, wie erneut Ingested und sogar Rivers of Nihil, die ja ihrerseits durchstarten. Halle also rappelvoll: Zweitausend Zuschauer, die Hälfte davon weiblich – erstaunlich viele Frauen für diese Art Musik. Der Gig war ein meisterhaftes Gesamtkunstwerk: durchgestylt, perfekt choreographiert und gnadenlos präzise.
Im Juni 2025 tourten Lorna Shore wieder zwei Wochen durch Europa, u. a. um sich einer größeren Öffentlichkeit bei Rock am Ring und Rock im Park vorzustellen: Sonnabend und Sonntag um 21.05 Uhr, zur Prime Time also – trotz unsäglichem Wetter vor einem begeisterten Publikum, das sonst eher Bands wie Linkin Park, Die Ärzte oder Volbeat zugeneigt ist.
Wie entwickelt sich eine Band, die den Erfolg am Horizont leuchten sieht? Man sehe sich die Musikvideos zum neuen Album an. Deren cineastische Qualität lässt Hollywood erblassen (»Oblivion«). Zugeständnisse an den Massengeschmack werden von einer Blut- und Goreflut weggespült (»Prison of Flesh«). Ausgestochen wird alle Brutalität aber von Melodien, die den Schmerz und den Schmutz vergessen lassen (»Unbreakable«). Letzteres ist eine Hymne, die für Furor sorgen könnte, indem sie dem Genre neue Zuhörerinnenschaften erschließt, der Zuversicht ein Ventil öffnet und im Grunde das erste Opus einer neuen Stilrichtung darstellt: Stadion-Deathcore, der auch auf den ganz großen Bühnen glänzen kann.
Soeben ist das fünfte Album erschienen. Die Europatour im kommenden Frühjahr ist ausverkauft (Tauschmarktpreis ab 150 Euro). Was soll’s? Ich werde erneut als Augenzeuge dabeisein. Die nächste Grippewelle wird abgeebbt sein, die Gesichter des Todes also wieder den Bands überlassen, die daraus kultivierte Funken schlagen können. Zum Beispiel einen epischen Albumtitel wie diesen: »I Feel The Everblack Festering Within Me«.
Lorna Shore: »I Feel The Everblack Festering Within Me« (Century Media)
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