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Aus: Ausgabe vom 04.10.2025, Seite 6 / Ausland
Brief aus Jerusalem

Das Mantra der Zweistaatenlösung

Brief aus Jerusalem: Während weitere Staaten Palästina anerkennen, macht Israel mit Annexion und Völkermord unvermindert weiter
Von Helga Baumgarten, Jerusalem
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Festnahme von Palästinensern in Tulkarem im besetzten Westjordanland durch israelische Militärs (11.9.2025)

Auf der UN-Vollversammlung in New York Ende September haben unter anderem Frankreich und Großbritannien einen palästinensischen Staat innerhalb der von Israel 1967 besetzten Gebiete – Westbank mit Ostjerusalem und Gazastreifen – anerkannt. In Gesprächen am Rande der Vollversammlung und im Anschluss an die Rede des US-Präsidenten trafen sich arabische und islamische Staaten mit Donald Trump und einigten sich mit ihm darauf, dass es keine Annexion der Westbank geben und Israel einen palästinensischen Staat anerkennen solle.

Zwei Tage später widersprach Israels Premier Benjamin Netanjahu dem in seiner Rede vor der UNO ganz dezidiert: Es werde keinen palästinensischen Staat geben. Er wiederholte dies auch in der Pressekonferenz nach dem Treffen mit Donald Trump im Weißen Haus am Montag, als Trump seinen neuen »Friedensplan« vorlegte. Dieser spricht in Punkt 19 zumindest vage von palästinensischer Selbstbestimmung und Staatlichkeit, jedoch irgendwann in der Zukunft und immer unter der Voraussetzung, dass die Palästinenser brav die Forderungen Israels und der USA erfüllen.

Derweil führt Israel den Völkermord in Gaza weiter. Auch während Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag an diesem Mittwoch und Donnerstag. Gleiches gilt für die Gewalt in der Westbank sowie die regelrechten »Siegesparaden« extremistischer, religiös-nationalistischer Siedler auf dem Haram Al-Scharif. Kommentatoren in der liberalen israelischen Zeitung Haaretz schrieben, dass laut jüdischer Tradition an Jom Kippur alle, speziell in Israel, beten müssen: »Wir haben gesündigt, wir haben andere verraten, wir haben gestohlen«. Die Autorin Zeruya Shalev ging sogar einen Schritt weiter und richtete sich direkt an Netanjahu: »Du hast gesündigt, Du hast andere verraten, Du hast gestohlen, Du hast andere verleumdet und dazu gebracht zu sündigen (…) Du hast gelogen und betrogen (…) Du hast Verbrechen begangen«.

Die Gewalt im Westjordanland wird von der Armee, zusammen mit den extremistischen kolonialen Siedlern, kontinuierlich eskaliert. Wer interessiert sich in diesen Tagen für einen palästinensischen Staat? Die Menschen in Gaza sicher nicht. Sie wollen ein Ende des Völkermordes und einen Abzug der israelischen Armee. Das ist ihre erste und entscheidende Forderung, ebenso wie die aller palästinensischen politischen Organisationen. In Ostjerusalem geht es den Palästinensern zuerst und vor allem um eines: ein Ende der Provokationen der extremistischen Siedler à la Itamar Ben-Gvir auf dem Haram Al-Scharif, eine Rückkehr zum Status quo der Jahre nach 1967 und freien Zugang für die muslimischen Gläubigen zum Haram. Parallel dazu wollen sie einen endgültigen Stopp von Häuserzerstörung, Enteignung sowie Vertreibung.

In der Westbank fordern alle ein Ende der Abriegelungen und endlich wieder freie Mobilität. Und Israel müsse durchsetzen, dass die kolonialistischen Siedler (und die Armee!) wenigstens nicht mehr palästinensische Dörfer und Beduinensiedlungen angreifen. Palästinensische Politiker wie Mustafa Barghuthi verweisen auf den Beschluss des Internationalen Gerichtshofes vom Juli 2024, der die israelische Besatzung der Westbank mit Ostjerusalem und des Gazastreifens als illegal bewertet. Israel soll deshalb die Besatzung zum frühestmöglichen Zeitpunkt beenden.

Auch die UN-Vollversammlung hatte im September 2024 gefordert, dass Israel seine Besatzung bis zu diesem September beende. Aber das sind Forderungen des Internationalen Gerichtshofes und der UN. Israel ebenso wie die USA schert dies nicht. Vor Ort bestimmen sie, was Sache ist. Finanzminister Bezalel Smotrich ist der faktische Herrscher über die Westbank. Und er will Annexion, die übrigens von der Knesset beschlossen ist und de facto längst stattfindet. Netanjahu verlangt zwar, dass seine Regierungsmitglieder sich mit öffentlichen Äußerungen erst einmal zurückhalten. Aber das galt nur für die Tage, die er in New York und Washington war. Seit seiner Rückkehr dominiert wieder Siedlerkolonialismus pur.

Vor diesem Hintergrund klingt die Zweistaatenlösung wie Hohn.

Helga Baumgarten ist emeritierte Professorin für Politik der Universität Birzeit und schreibt an dieser Stelle wöchentlich ihre Kolumne »Brief aus Jerusalem«

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