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Aus: Ausgabe vom 04.10.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Gedenken an »Euthanasie«

»Ihnen selbst Präsenz und Stimme geben«

Über NS-»Euthanasie« und barrierefreie Erinnerung. Ein Gespräch mit Florian Schwanninger
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Warum findet die jährliche Gedenkfeier auf Schloss Hartheim am 1. Oktober statt?

Der Trägerverein des Lern- und Gedenkortes hat sich dafür entschieden, diesen Tag zum Gedenktag zu machen. Er steht für den Beginn der »Euthanasie«-Verbrechen im sogenannten Dritten Reich: Anfang Oktober 1939 wurde von Hitler der sogenannte »Gnadentod-Erlass« verfasst, welcher den Auftakt dazu bildete. Dabei handelt es sich um ein Schreiben, durch das Hitler seine Leibärzte dazu ermächtigte, Menschen mit Beeinträchtigungen zu töten. Im Erlass ist davon die Rede, in »besonders schweren Fällen« den »Gnadentod« zu gewähren. Der »Gnadentod-Erlass« wurde rückwirkend von Hitler auf den 1. September 1939 vordatiert – es ist der Tag des Überfalls auf Polen, also Kriegsbeginn.

Was macht dieses Datum symbolträchtig?

Mit dem Krieg nach außen begann auch der Krieg nach innen – ein Zusammenhang, der zeigt, dass Krieg und NS-»Euthanasie« zusammenhängen. Die Nationalsozialisten wollten sogenannte »unnütze Esser« und »Ballastexistenzen« – so bezeichnete man Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen – beseitigen. Das sind diffamierende und entmenschlichende Begriffe. Etabliert wurden sie schon im Ersten Weltkrieg. Damals starben Zehntausende Patienten infolge des Systems der Triage. Es impliziert, sogenannten »wertvollen Mitgliedern des Volkes« alle Ressourcen zukommen zu lassen, was den Tod der als »minderwertig« definierten zur Folge hatte. Im NS-Regime geschah dies systematisch und geplant. Für viele Ärzte und führende Personen im Gesundheitssystem war noch vor dem Zweiten Weltkrieg klar: Kommt es erneut zu einer Notsituation, stehen Menschen mit Beeinträchtigungen ganz unten in der Hierarchie – jene, die als »Belastung für die Volksgemeinschaft« galten, nur Lebensmittel verbrauchten, aber nicht arbeiten konnten.

Das klingt nach knallharter Ressourcenverteilung – eine extreme Zuspitzung kapitalistischer Verwertungslogik?

In den Jahren 1940/41 zeigt sich dies besonders deutlich: Mit der Ermordung von Patientinnen und Patienten wurden Betten, medizinische Materialien, Personal und Gebäude frei. Diese Ressourcen nutzte man sofort für andere Zwecke – Lazarette für verwundete Wehrmachtssoldaten, Umsiedlerheime für sogenannte Bessarabiendeutsche oder andere Einrichtungen des NS-Staates. NS-»Euthanasie« war nicht nur Vernichtung, sondern zugleich systematische Umverteilung von Ressourcen im Gesundheits- und Sozialsystem – eine Platzbeschaffungsmaßnahme für die »Gefolgstreuen«.

Wie barrierefrei ist der Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim heute?

Seit der Eröffnung 2003 ist Barrierefreiheit ein zentrales Anliegen. In den Ausstellungsräumen gibt es taktile Elemente und Brailletexte, das Gebäude ist rollstuhlgerecht zugänglich. Bei der Vermittlung der Inhalte gibt es noch Nachholbedarf. Deshalb läuft derzeit ein dreijähriges Projekt, mit dem wir weitere Maßnahmen umsetzen wollen: ein taktiles Leitsystem, Induktionsschleifen für Hörgeräte und vor allem die Einbindung von Menschen mit Behinderungen in die Vermittlungsarbeit. Wichtig ist uns: nicht über sie zu reden, sondern mit ihnen – ihnen selbst Präsenz und Stimme geben. Geplant ist ein Tandemsystem, bei dem Guides gemeinsam mit Menschen mit Behinderungen Führungen gestalten. Zudem sollen mehr Angebote in Leichter Sprache entstehen. Unsere barrierefreie App wird ausgebaut: Künftig sollen nicht nur Raumtexte, sondern alle Inhalte verfügbar sein – in Leichter Sprache, als Hörtexte und mit Gebärdensprachvideos.

Interview: Barbara Eder

Florian Schwanninger ist Leiter des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim. Er forscht und publiziert zu NS-Euthanasie, Widerstand gegen den Nazifaschismus und Erinnerungskultur nach 1945

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