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Aus: Ausgabe vom 04.10.2025, Seite 3 / Schwerpunkt
Gedenken an »Euthanasie«

Blumenkranz und Wertgesetz

Österreich: Gedenkfeier am 1. Oktober für Opfer der NS-»Euthanasie« am Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim. »Nie wieder« bleibt Auftrag für die Gegenwart
Von Barbara Eder
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Gedenkfeier am 1. Oktober in Schloss Hartheim bei Linz

Alkoven ist der Name eines Ortes, den viele nur aus Geschichtsbüchern kennen. Hier befand sich ab Mai 1940 eines der Mordzentren der NS-»Euthanasie«. Ein Foto von Karl Schuhmann, aufgenommen im Herbst/Winter 1940/41, ist stärker als jedes andere mit dieser Geschichte verbunden. Es zeigt den Rauch, der aus Schloss Hartheim aufstieg – Rauch, der nach verbranntem Haar, Fleisch und Knochen stank. Er kam aus dem Krematorium, das am Ende der Tötungsstrecke eingebaut worden war. Noch vor Kriegsende versuchte die SS, alle Spuren zu verwischen, und ließ das Krematorium abtragen.

Schuhmanns Bild ist ein Foto mit Evidenzcharakter. Es durchbricht die Behauptung, dass hier nichts geschehen sei. Hitlers vor Ort umgesetzte Direktiven im Rahmen der »T4«-Aktion markierten den Beginn des industriellen Massenmordens: Bereits auf Schloss Hartheim waren alle Tötungsräume fließbandartig angeordnet. Der Mord erfolgte mit Kohlenmonoxid, die Leichen wurden verbrannt. Die Täter setzten ihre Karrieren später in anderen Vernichtungslagern fort. Einer der prominentesten unter ihnen war Franz Stangl: Zuvor in Hartheim tätig, wurde er zum Kommandanten der Vernichtungslager Sobibór und Treblinka.

Dokumente des Widerstands

»Ballastexistenzen« nannten die Nazis die nach Hartheim Deportierten – darunter viele Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen. Im ersten Obergeschoss des Schlosses stellt die Dauerausstellung »Wert des Lebens« die »Euthanasie«-Verbrechen in größere ideengeschichtliche Zusammenhänge. Wer durch die Räumlichkeiten geht, sieht auch Dokumente von Armenhäusern und Fabriken – und wird dadurch unweigerlich mit Fragen der Gegenwart konfrontiert: Was heißt es, wenn Gesellschaften Leben nach Nützlichkeit beurteilen? Begriffe, die heute Menschen nach »Leistung« und »Kosten« sortieren, kommen der NS-Taxonomie gefährlich nahe.

Besonders eindrucksvoll ist der Ausstellungsbereich im Erdgeschoss, welcher Dokumente des Widerstands gegen Hitlers »T4«-Aktion zeigt: Fotos von Angehörigen, Pflegerinnen, vereinzelt auch Ärzten, die nicht mitmachten, und von Familien, die ihre Kinder versteckten. In Graz formierte sich um den Kommunisten Herbert Eichholzer eine Widerstandsgruppe, die im Herbst 1940 eines der wenigen Flugblätter gegen die NS-»Euthanasie« druckte. Es wies auf die gezielte Täuschung der Angehörigen von Patientinnen und Patienten am Wiener Steinhof hin, denen man fingierte Todesursachen vorgaukelte. Das Flugblatt endet mit einem Appell: »Kein anständiger Mensch kann mehr in einer Partei bleiben, die kaltblütig und überlegt kranke und alte Leute mordet.«

Kontinuitäten

Am vergangenen Mittwoch, dem 1. Oktober 2025, versammelten sich rund zweihundert Menschen neben dem Schloss, um der Opfer zu gedenken – Angehörige, Nachkommen, Diplomaten aus rund zwanzig Ländern, Kirchenvertreter und Politiker. Maria Katharina Moser, Direktorin der Diakonie Österreich, erinnerte in ihrer Rede an den oberösterreichischen Pastor Friedrich Braune, der während der Nazizeit öffentlich gegen die Tötungen predigte und dafür selbst ins Visier der Gestapo geriet. Moser sah NS-Kontinuitäten in der Gegenwart: »›Unnütze Esser‹ waren sie für die Nazifaschisten. Wer zu nichts nutze ist, muss weg. Eine grausam utilitaristische Logik.« Moser zufolge seien die Menschenrechte einer »Ethik aus Erinnerung« geschuldet: Jeder Mensch habe Würde – nicht weil er etwas leiste, sondern weil er Mensch sei. Auch SPÖ-Bundesministerin Korinna Schumann, zuständig für Arbeit, Soziales und Gesundheit, erkannte im »Nie wieder« einen Auftrag im Heute. Mit der Abschaffung des Zuverdienstes für Arbeitslosengeldbezieher sorgte sie zuletzt politisch für Aufsehen.

Wer an diesem Nachmittag über das Gelände ging, konnte auch Spuren »wilden Gedenkens« entdecken. In den Wiesen rund um das Schloss sind Aschereste verborgen, die erst vor wenigen Jahren am örtlichen Friedhof beigesetzt wurden. Schloss Hartheim, einst erbaut, um im Glanz der Renaissance zu erstrahlen, wurde laut Marmortafel im Eingangsbereich im Jahr 1898 von Kaiser Franz Josef I. »den armen Schwach- und Blödsinnigen, Idioten und Cretinösen« als »Asyl« überlassen – Bezeichnungen, die den Boden für spätere Entwertungen bereiteten. Die Erinnerung daran darf nicht bloß Eingedenken bleiben, sie muss Gegenwehr werden.

Hintergrund: Lern- und Gedenkort

Schloss Hartheim in Alkoven bei Linz ist ein Lern- und Gedenkort, an dem die Geschichte der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Verbrechen sichtbar gemacht wird. Zwischen Mai 1940 und August 1941 ermordeten Nationalsozialisten hier rund 18.000 Menschen aus Heil- und Pflegeanstalten im Rahmen der »Aktion T4«. Von 1941 bis 1944 wurden bis zu 12.000 Häftlinge aus den Konzentrationslagern Mauthausen, Gusen, Dachau und Ravensbrück sowie Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vor Ort getötet. Sie starben in der Gaskammer im Erdgeschoss des Schlosses, der Gashahn wurde vom ärztlichen Personal aufgedreht. Seit 2003 ist Hartheim eine Gedenkstätte. In den Räumen des Renaissanceschlosses informiert die Dauerausstellung »Wert des Lebens«, die 2021 neu gestaltet wurde, über die Verbrechen, aber auch über die dazugehörigen Denkmuster. Sie fragt nach dem Umgang mit Krankheit und Behinderung, nach der Konstruktion von »Verwertbarkeit« und »Nützlichkeit« in Kapitalismus und Nationalismus sowie nach den politischen Folgen dieser Kategorien. Damit richtet sich der Blick nicht nur auf die Vergangenheit, sondern ebenso auf gegenwärtige Debatten um Inklusion, Fürsorge und soziale Teilhabe. Der Verein Schloss Hartheim verantwortet die Arbeit vor Ort. Er führt Forschungsprojekte durch, publiziert deren Ergebnisse und entwickelt pädagogische Programme, die ein Lernen gegen das Vergessen ermöglichen. Schulklassen und Studierende ebenso wie Opferangehörige und Interessierte erfahren über die Geschichte(n) von Tätern, Opfern und Mitläufern. Anhand von Dokumenten, Fotos und persönlichen Zeugnissen wird deutlich: Das Morden war eingebettet in eine Gesellschaft, die wegsehen wollte. (be)

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