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Aus: Ausgabe vom 02.10.2025, Seite 1 / Titel
Militarisierung

Pflegegrad statt Stalingrad

Zwischen Sozialstaatskürzung und Aufrüstung besteht ein beunruhigender Zusammenhang
Von Daniel Bratanovic
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Das anzustrebende Tätigkeitsprofil des Soldaten. Die Flinte ins Korn werfen, Pflegebedürftigen helfen

Agenturmeldungen der vergangenen Tage: Wadephul für »sofortige Wehrpflicht«; Terrorismus und Spionage: Bundesregierung beschließt Verschärfung von Strafrecht; Ministerpräsident Rhein fordert »Rüstungsoffensive«; Koalition erwägt Streichung von Pflegegrad 1. Eher zufällig ausgewählt, bezeugen diese Nachrichten einen Zusammenhang, der entweder nicht eingestanden wird oder, falls doch, dessen wacklige Begründung nicht hinterfragt wird beziehungsweise nicht hinterfragt werden darf.

Der sozialdemokratische Verteidigungsminister weist für sein Ressort im laufenden Jahr 2025 einen Etat von mehr als 86 Milliarden Euro aus, soviel wie nie zuvor. Für das kommende Jahr sind 108 Milliarden Euro an Mitteln für Kriegsmaterial vorgesehen, 2029 sollen es gar 153 Milliarden sein. Gleichzeitig gibt der Finanzminister von derselben Partei für die Jahre 2027 bis 2029 eine Finanzierungslücke von gut 172 Milliarden Euro an. Als Klingbeil auf der Suche nach Füllmasse zum Stopfen seiner Haushaltslöcher vor einer Fernsehkamera laut darüber nachdachte, »Spitzenverdiener und Vermögende« höher zu besteuern, folgte umgehend empörte Zurückweisung durch die bürgerlichen Parteien. Inzwischen scheint das Thema Reichenbesteuerung wieder vom Tisch zu sein.

Nicht Löcher stopfen, sondern Löcher verkleinern, lautet die Devise. Wie das geht? Man kürzt zum Beispiel am Sozialstaat. So läuft etwa die Bürgelddebatte schon seit Monaten mit dem immergleichen Tenor – Leistungsminimierung, Disziplinierung, Gängelei der Erwerbslosen. Der neueste Schrei wiederum: die Abschaffung des Pflegegrads 1 bei der Pflegeversicherung. Auf diese Weise sollen jährlich 1,8 Milliarden Euro an Haushaltsmitteln eingespart werden, 861.000 pflegebedürftige Menschen überlässt man zu diesem Preis gern sich selbst.

So startet ein Testballon nach dem anderen, bis die erforderlichen Einsparungen irgendwann erreicht sein werden. Hinterfragt wird der offensichtliche Widerspruch nicht eine Sekunde. Bisher ungekannte Summen fließen in eine umfassende und als unvermeidlich ausgewiesene Militarisierung des Landes, kompensiert werden sollen diese Ausgaben nicht zuletzt durch die Schleifung eines ohnehin schon bröselig gewordenen Wohlfahrtsstaats. Dabei hängt die ganze sozialstaatskürzungsfinanzierte Aufrüstungsgigantomanie im Grunde an einem einzigen unhinterfragten Satz: Russland wird bis 2029 in der Lage sein (mit schwingt: und auch willens sein) NATO-Territorium anzugreifen. Kaum jemand im offiziellen Betrieb, der ein Interesse daran hätte, den Wahrheitsgehalt dieser Behauptung zu überprüfen.

Im Jahr 35 der deutschen Einheit, die mit warmen Worten zu zelebrieren die Repräsentanten der Bundesrepublik nicht müde werden, beantwortet sich die Frage nach ihren Ergebnissen wie von selbst. An der eingefahrenen Friedensdividende fett geworden, putscht sich dieser Staat nun endlich zur Kriegstüchtigkeit auf und verspricht seiner Bevölkerung mit den angekündigten Totinvestitionen in Tötungsgerät einen Austritt aus der ökonomischen Misere, die nun tatsächlich Tag für Tag mit Händen zu greifen ist. Ob die Rechnung aufgeht, darf bezweifelt werden. Denn was nicht gesagt wird, in Geschichte halbwegs Bewanderte aber wissen: Ein Land, dieses zumal, das von Waffen starrt, ist eine Gefahr für die Welt – und die eigene Bevölkerung. Wer sich dem laufenden Militarisierungskurs also verweigert, macht ganz sicher nichts falsch.

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  • Leserbrief von Reinhard Hopp aus Berlin (2. Oktober 2025 um 10:08 Uhr)
    Entweder schafft es die deutsche Bevölkerung doch noch rechtzeitig, die Phalanx der fanatischen Kriegstreiber zum Teufel zu jagen, oder es wird schon bald selbst die Hölle im eigenen Land erleben. Denn ein weiteres Mal brauchen wir uns nicht erst bis nach Stalingrad zu bemühen; Stalingrad wird zu uns kommen!
  • Leserbrief von Onlineabonnent/in Joachim S. aus Limassol (2. Oktober 2025 um 06:03 Uhr)
    Es wird Zeit, die Bilder wieder herauszuholen, die die Städte Deutschlands im Sommer 1945 zeigen. Auf ihnen ist überaus eindrucksvoll zu sehen, wohin die absolut wahnsinnige Militarisierung des Landes letztendlich führen wird. Manch einer wird das »Nie wieder!« dann besser verstehen, das nach 1945 die Stimmung im Lande prägte. Und anfangen, in das noch schwache »Nie wieder!« der heutigen Kriegsgegner einzustimmen. Nötig wäre es dringend. Denn eines ist klar: Bei dem angestrebten Konflikt mit einer Atommacht bliebe von Deutschland nicht einmal ein feuchter Fleck auf der Landkarte. Ja noch nicht mal mehr einer, der dieses Elend fotografieren könnte.