Papierkrieg für 15 Euro
Von Ralf Wurzbacher
Der Bundeskanzler meint, wir lebten »über unsere Verhältnisse«. Er irrt – viele bekommen nicht einmal das wenige, das ihnen zusteht. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat nachgerechnet: Die sogenannte Teilhabeleistung im Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) erreicht nicht einmal 20 Prozent der anspruchsberechtigten Kinder und Jugendlichen in Haushalten mit Bürgergeldbezug. Für vier von fünf laufe das Angebot »ins Leere«. Das Instrument bleibe auch 14 Jahre nach seiner Einführung eine »Misserfolgsgeschichte«, erklärte am Montag Hauptgeschäftsführer Joachim Rock.
Das BuT war die Antwort der damaligen Regierung aus Union und FDP auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Es hatte 2010 festgestellt, dass die Regelsatzbemessung auch von Heranwachsenden an den tatsächlichen Bedarfen orientiert sein müsse. Bis dahin hatte die Politik sie wie eine »halbe Portion« behandelt und ihre Zuwendungen pauschal kleinkalkuliert, ohne jede Ermittlung der realen Erfordernisse. Ein Jahr später trat das BuT als Bündel aus schon bestehenden und neuen Maßnahmen in Kraft, wobei diese bis heute überwiegend als Sachleistungen bewilligt werden. Die Koalition hätte auch auf Geldleistungen als fixen Bestandteil des Regelsatzes bauen können, sah aber davon ab, um sicherzustellen, dass das Geld »bei den Kindern ankommt«, wie es damals hieß.
Genau das passiert gerade nicht – und tat es noch nie. Die am Dienstag vorgelegte Studie der Paritätischen Forschungsstelle konzentriert sich auf ein Element des BuT: die »Teilhabeleistung« im Umfang von anfangs zehn, später bis zu 15 Euro monatlich. Gefördert werden damit die Beteiligung am »Sport- und Vereinsleben, an Freizeiten, an Bildung und Kultur«. Nach den von der Bundesagentur für Arbeit (BA) herangezogenen Daten für 2024 wurden im Bundesdurchschnitt lediglich für 19,2 Prozent der Sechs- bis unter 15jährigen diese Zahlungen beantragt, 80,8 Prozent blieben unversorgt. Warum? Zuständig für die Bewilligung sind in der Regel die Landkreise und kreisfreien Städte, und die setzen gemäß Untersuchung in der großen Mehrheit auf »aufwendige« Einzelfallbearbeitungen. Faktisch müsse also jeder Kino- oder Theaterbesuch gesondert beantragt werden, »mit sechs Seiten Papierkram, das schreckt doch ab«, sagte Studienautorin Greta Schabram am Dienstag gegenüber junge Welt. »Es ist absurd: In allen Bereichen soll es weniger Bürokratie geben, aber im Umgang mit den Ärmsten unterhält man einen riesigen Verwaltungsapparat und dreht jeden Euro dreimal um.«
Alternativ ließen sich auch Karten oder Gutscheine im Umfang der Geldleistung ausgeben, aber nur die wenigsten Stellen praktizieren das. Die Analyse zeigt die Entwicklung im Zeitverlauf: Nur einmal, 2019, erhielten mit 20,3 Prozent knapp mehr als ein Fünftel der Berechtigten Zuschüsse. Mit Corona rutschte die Quote auf 16,6 Prozent und stieg danach nur schleppend auf die davor schon üblichen knapp 20 Prozent. Das alles erscheint wie gewollt und nach dem Gusto professioneller Sozialkahlschläger. Tatsächlich wurden mit dem BuT bis dahin bereits vorhandene Leistungen aus dem Regelsatz herausgekürzt, die seither nur noch mit Behördenmarathon zu haben sind. Die »Teilhabeleistung« steht auch Kindern aus Haushalten mit Sozialhilfe, Kinderzuschlag und Asylleistungen zu, wobei hier die Quoten nach Schabrams Schätzung »wohl noch geringer sein dürften«. Bei einer Kinderarmutsquote von über 15 Prozent geht es um Millionen Fälle vorenthaltener Unterstützung.
»In einem derart reichen Land wie Deutschland ist es ein Ärgernis, wenn Kinder nicht zum Fußball- oder Ballettunterricht gehen können«, befand Verbandschef Rock in der Medienmitteilung. »Das muss dringend geändert werden, zumal jegliche Bemühungen hin zu einer Kindergrundsicherung eingestellt scheinen.« Sein Vorschlag: Die Leistungen sollten pauschal an alle, die Ansprüche auf sie haben, ausgezahlt werden. Das wäre auch ein Beitrag zur »Entbürokratisierung«. Zudem plädiert der Paritätische für die Schaffung eines »Rechtsanspruchs auf Angebote der Kinder- und Jugendarbeit«. Und die Bundesregierung? Die will statt 15 künftig 20 Euro gewähren, allerdings steht das unter »Finanzierungsvorbehalt«.
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