Oma nicht »kriegstüchtig«
Von Ralf Wurzbacher
So kommt eins zum anderen. Praktisch täglich künden irgendwo über Europa Drohnen »wahrscheinlich« russischer Provenienz von künftigen Schlachten. Und hierzulande schwirrt ein Testballon nach dem nächsten durch den Debattenraum und fühlt dem Untertan auf den Zahn: Was bist du bereit, für dein Land zu opfern? Deine Gesundheit, deine Kinder, dein Leben? Wem das noch zuviel ist, sollte wenigstens im kleinen seinen Beitrag zur »Kriegstüchtigkeit« leisten – zum Beispiel mit weniger Rente, Praxisgebühr, Bürgergeldentzug, Jobverlust, länger arbeiten. Dient alles der guten Sache, also Rheinmetall, und schadet dem Dämonen, also Putin. Denn dem Reich des Bösen ist nur mit mehr Elend im Wertewesten beizukommen.
Der jüngste Hit vom Wühltisch der sozialen Grausamkeiten ist die Idee, die Pflegestufe 1 der Pflegeversicherung abzuschaffen. Es gibt ja schließlich noch vier weitere, deshalb: Weg damit! Betroffen wären rund 861.000 Menschen, die ihr eingeschränktes Dasein mit noch mehr Einschränkungen zu fristen hätten, mit Stolperfallen in der Wohnung, ohne Einkaufs- und Haushaltshilfen, mit noch weniger Kontakten zur Außenwelt. Die Maßnahme soll »Einsparungen« von 1,8 Milliarden Euro jährlich bringen, heißt es. Eine einzige Fregatte des Typs F 126 für die Bundeswehr wird mindestens 1,5 Milliarden Euro kosten. Die deutsche Marine soll sechs davon erhalten. Und Omi stürzt demnächst beim Fensterputzen von der Leiter. So liegen inzwischen die Verhältnisse in einem Land, das im Wahn in die Katastrophe taumelt.
Der Ablauf ist immer derselbe: Irgendwer macht eine harte Ansage, mal der Bundeskanzler, mal der Vizekanzler, in diesem Fall »führende Politiker« der Koalition. Prompt erhebt sich ein Sturm der Entrüstung bei Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbänden. Nach hitzigen Debatten bleibt von der Maximalforderung in der Regel nicht alles übrig, aber hängen bleibt immer: »An Reformen führt kein Weg vorbei.« So wird der Kahlschlag zu einem Gesamtkunstwerk. Hier eine neue Kürzungsformel bei der Rente, da ein Leistungsabstrich bei den Krankenkassen, dazu höhere Beiträge bei der Pflege und null Stütze bei »Arbeitsverweigerung«. Hauptsache die Endabrechnung stimmt, der Sozialstaat wird geschleift, der Furor gegen »die da unten« befeuert, die Spaltung der Gesellschaft vertieft – und Deutschland bis an die Zähne bewaffnet. Muss ja irgendwer bezahlen.
Und die Gewerkschaften? Die schauen zu, schlagen, wenn es »zu weit« geht, auch mal rituell Krach, klopfen sich auf die Schulter, wenn sie das »Schlimmste verhindert« haben, und finden Kriegswirtschaft gar nicht so übel, wenn es nur reichlich Arbeitsplätze schafft. Mögliche Leistungskürzungen bei der Pflege nannte der DGB gestern »unmenschlich und ungerecht«. Ganz zu schweigen vom Krieg.
Hinweis: In einer früheren Version dieses Kommentars hatte es geheißen, von einer Abschaffung der Pflegestufe 1 wären 860 Millionen Menschen betroffen, gemeint war 860.000 Menschen. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
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