Den Frieden im Mund
Von Ronald Weber
Googelt man den Namen Rudolf Scharping, so finden sich auch Einträge über dessen Präsidentschaft beim Radsportverband German Cycling. Auch dass der Mann mal SPD-Vorsitzender und Verteidigungsminister gewesen ist und denkt, der amtierende SPD-Minister für Totschießen, Boris Pistorius, sei »ein starker Politiker mit einem großen Herzen«, lässt sich lesen. Um herauszufinden, für was der mittlerweile Unternehmen »beratende« Rentner in seiner Funktion als Minister in der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder zwischen 1998 und 2002 aber mitverantwortlich war, muss man schon ein bisschen tiefer graben. Er lieferte nämlich im Frühjahr 1999, als die NATO ihren Luftkrieg gegen die zu diesem Zeitpunkt nur noch aus Serbien und Montenegro bestehende Bundesrepublik Jugoslawien führte, die menschenrechtlich bemäntelten Kriegsgründe.
Von aufgeschlitzten Bäuchen kosovo-albanischer Schwangerer und gegrillten Föten war da die Rede, auch von Konzentrationslagern und einem sogenannten Hufeisenplan, der die völkermörderischen Absichten des jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević, der in der deutschen Öffentlichkeit munter mit Adolf Hitler verglichen wurde, belegen sollte. Dumm nur, dass das alles erstunken und erlogen war, wie wir heute wissen (oder doch zumindest wissen können, wenn wir es denn wissen wollen). Seinerzeit aber erfüllte die Erfindung ihren Zweck, der Öffentlichkeit den ersten Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung nach 1945 schmackhaft zu machen.
Scharpings Kriegslüge steht in einer langen Reihe ähnlicher Äußerungen von deutschen Politikern. Denn seit langem schützt, wer in den Krieg treten will, andere Gründe vor: menschenrechtliche wie in den Kriegen des Westens im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert oder schlicht solche der Verteidigung wie im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Denn gedroht oder angegriffen, so viel ist klar, haben immer die anderen. Man selbst will stets nur den Frieden wahren und kann nicht anders.
Der Jurist und emeritierte Professor für Urheberrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin Artur-Axel Wandtke beleuchtet in seinem Buch »Die Macht der Kriegslüge und die Kriegslüge der Macht in Deutschland seit 1871« zahlreiche dieser Verdrehungen der Wahrheit im Dienste der Mobilisierung der Heimatfront. Ausgehend von den Protokollen der Reichs- und Bundestagssitzungen zeigt Wandtke, wie diese Lüge von Anfang an Bestandteil des deutschen Parlamentarismus war. Dabei zitiert er ausführlich, beispielsweise aus Kaiser Wilhelms Thronrede vom 4. August 1914 (»In aufgedrängter Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.«) oder Hitlers Kriegserklärung an Polen (»Seit 5.35 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!«). Aber auch deutlich weniger bekannte Auftritte kommen zu Wort, etwa FDP-Außenminister Klaus Kinkel, der am 16. Oktober 1998 dem Bundestag den geplanten Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien zur Debatte vorlegte und behauptete, auch Russland sei der Ansicht, man müsse den »militärischen Druck auf Belgrad aufrechterhalten« – was nicht stimmte.
Interessant nachzulesen ist auch, wie deutlich seinerzeit bereits vor den Folgen des eklatanten Völkerrechtsbruchs durch die NATO gewarnt wurde. Was wir seit längerem mit den kleinen, kaum erklärten Kriegen (Stichwort: Drohnen) und den größeren Bombardements (zuletzt im Juni, als die USA die Atomanlagen des Iran bombardierten) erleben, entspricht ziemlich genau dem Grundsatz »Macht geht vor Recht«, dessen Durchsetzung in den internationalen Beziehungen der PDS-Abgeordnete Uwe-Jens Heuer schon Ende 1998 konstatierte. Später fiel selbst dem vormaligen Kanzler Gerhard Schröder auf, dass der Einsatz der Bundeswehr im Kosovo nicht vom Völkerrecht gedeckt war und die NATO 1999 einen Angriffskrieg geführt hatte.
Natürlich behandelt Wandtke auch das Desaster des Afghanistankrieges ab 2001, der uns die schöne Sentenz von der Verteidigung der deutschen Sicherheit am Hindukusch durch Verteidigungsminister Peter Struck, auch ein SPDler, eingebracht hat (eine Formulierung, die zuletzt noch von CSU-Raumfahrtministerin Dorothee Bär getoppt wurde: »Unsere Sicherheit wird auch im All verteidigt.«). Und auch der Ukraine-Krieg nebst der Auseinandersetzung um die gesprengten Nord-Stream-Pipelines findet Raum. Dabei zeigt Wandkte nicht nur auf, wie die Vertreter von Regierung und nomineller Opposition – die im Fall des Ukraine-Kriegs tatsächlich weithin keine ist – ihre eigenen Lügen und Halbwahrheiten glauben, sondern auch, in welchem Abhängigkeits- und Bedingungsverhältnis die Bundesregierung handelt. Schließlich darf nicht wahr sein, dass die USA als einer der engsten Verbündeten der Bundesrepublik deren Energieinfrastruktur ziemlich empfindlich getroffen haben. In jedem anderen Kontext wäre das als Kriegsgrund aufgefasst worden.
Dass die Menschheit angesichts des sich abzeichnenden Konflikts zwischen den USA und China bzw. den ihnen zugeordneten Mächten »das Leichentuch für den letzten aller Kriege webt«, ist die große Sorge, die heute viele umtreibt. Dass die von Wandtke gewünschte »Rückbesinnung auf das demokratische Völkerrecht« helfen würde, das große Schlachten zu verhindern, steht außer Frage. Allein, wie das ins Werk gesetzt werden soll, weiß niemand so recht. Anhand der »Macht der Kriegslüge« lässt sich zumindest einmal recht kompakt nachvollziehen, wie es so weit kommen konnte.
Artur-Axel Wandtke: Die Macht der Kriegslüge und die Kriegslüge der Macht in Deutschland seit 1871. Auszüge aus Sitzungsprotokollen des Reichs- und Bundestages. Cuvillier-Verlag, Göttingen 2025, 212 Seiten, 15 Euro
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