Deutscher Herbst
Von Daniel Bratanovic
Der Herbst der Reformen verzögert sich. Das könnte als gute Nachricht werten, wer als Lohnabhängiger weiß, dass sich hinter dem Wort Reform eine Drohung gegen ihn verbirgt. Der Motive, die Axt an den Sozialstaat erst später zu legen, mögen viele sein, eines zumindest liegt nahe: In einer Phase, in der eine Hiobsbotschaft aus der deutschen Wirtschaft die nächste jagt, ist es aus Regierungssicht keine gute Idee, die Gängelei gegen Erwerbslose jetzt zu verschärfen und Leistungen zu kürzen, wenn man den Wählerzuspruch zugunsten der AfD nicht dauerhaft auf über 30 Prozent hochjazzen will. Wo das allgemeine Wahlrecht noch herrscht, kann gesellschaftliche Stimmung nicht vollständig ignoriert werden, auch wenn Kapitalverbände mehr Tempo verlangen.
Von deren angeschlossenen Unternehmen hört man in diesen Tagen dies: Bosch streicht weitere 13.000 Stellen; die Lufthansa gibt bekannt, Tausende Jobs in der Verwaltung zu vernichten; Volkswagen kündigt Produktionspausen an. Die Nachrichten bestätigen einen Trend: In den Bereichen Gesundheit, Pflege und Soziales, außerdem im öffentlichen Dienst, wurden zuletzt Zehntausende neue Stellen geschaffen, in der Industrie wurden Jobs in etwa gleicher Größenordnung abgebaut. Kein Nullsummenspiel. In den genannten Sektoren zahlen Unternehmer deutlich schlechter als in der Industrie, die Realisierung des Werts erfolgt in der Regel per Staatskonsum und nicht am Markt, also letztlich über wachsende Steuer- und Abgabelasten. Eine Wohlstandsminderung – und mit Blick auf Großbritannien, wo die Deindustrialisierung bereits vor 40 Jahren in offenem Kampf gegen die Gewerkschaften eingeleitet wurde, ließe sich auch sagen: eine schleichende Verelendung.
Die Gründe dieser beginnenden Deindustrialisierung haben zu tun mit den kurzen Wellen der Weltpolitik und den längeren des Weltmarkts und liegen geographisch in West wie Ost. Die US-Regierung schließt per Verfügung ihren Markt nicht zuletzt für deutsche Industrieprodukte aus dem Automobil- und Maschinenbau, aus Pharma und Chemie, während die chinesische Volkswirtschaft Erzeugnisse aus all diesen Branchen inzwischen zu gleicher Qualität wesentlich günstiger herstellt.
Das deutsche Industriekapital setzt per Stellenabbau auf Gesundschrumpfen, um die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, die so vergrößerte industrielle Reservearmee verstärkt wiederum den Druck auf die Löhne, während der Staat dem Heer der Erwerbslosen klarmacht, dass Sozialleistungen die Lohnarbeit nicht ersetzen dürfen. Der Herbst der Reformen ist bloß aufgeschoben.
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Leserbrief von Onlineabonnent/in Franz S. (29. September 2025 um 08:55 Uhr)»In einer Phase, in der eine Hiobsbotschaft aus der deutschen Wirtschaft die nächste jagt, ist es aus Regierungssicht keine gute Idee, die Gängelei gegen Erwerbslose jetzt zu verschärfen und Leistungen zu kürzen, wenn man den Wählerzuspruch zugunsten der AfD nicht dauerhaft auf über 30 Prozent hochjazzen will.« Damit wird (wieder Mal) unterstellt, dass die AfD die Partei ist, die der »Gängelei gegen Erwerbslose« etwas entgegenstellt. Ausgerechnet die AfD, zu deren Sozialpolitik heißt es bei Wikipedia zusammenfassend: »Unter allen im Bundestag vertretenen Parteien befürwortet die AfD die stärksten Kürzungen von Sozialleistungen. Zum Beispiel soll das Bürgergeld auf sechs Monate begrenzt werden, und Langzeitarbeitslose sollen zu ›Bürgerarbeit‹ zwangsverpflichtet werden. Die Partei ist zudem gegen stärkeren Mieterschutz.« Erst am 08.09.2025 schrieb ich zu inhaltlich ähnlich fragwürdigen Sätzen in der jW: »Wie das? Ist etwa die AfD die Partei, die gegen diese Anschläge ankämpft, oder sind die Wähler zu blöd, um den Schwindel der Blauen (mir fiele eine andere Farbe ein) zu erkennen? Der Demagogie der AfD wird mit solchen Einschätzungen jedenfalls nichts entgegengesetzt. Eher wird die Legende von der ›Protestpartei‹ noch gestärkt.«
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Leserbrief von Istvan Hidy aus Stuttgart (27. September 2025 um 10:59 Uhr)Der »Deutsche Herbst« wird sich deutlich vom französischen oder italienischen unterscheiden. Die Franzosen protestieren, streiken, drohen mit Revolution – viel Theater, wenig Folgen. Die Italiener mogeln sich durchs Leben, ändern nichts, überleben aber immer irgendwie. Und die Deutschen? Sie arbeiten still weiter, beißen die Zähne zusammen und tun so, als sei alles normal – solange sie noch einen Arbeitsplatz haben. Aufruhr? Fehlanzeige. Murren? Zwecklos. Dabei drängt sich eine grundlegende Frage auf: Mit steigender Produktivität produzieren immer weniger Menschen immer mehr. Der Kuchen wird also größer, während die Gesellschaft demografisch schrumpft. Pro Kopf gäbe es folglich mehr als genug – wenn die Verteilung stimmen würde. Der eigentliche Fehler liegt also nicht in der Produktion, sondern in der Verteilung. Genau hier müssten die Stellschrauben angesetzt werden: Warum besteuern wir weiterhin vor allem Arbeit, während Privatvermögen ins Unermessliche wächst? Warum keine Börsensteuer, die exzessive Spekulation eindämmt? Die Debatte über den »Deutschen Herbst« ist ohne diese Fragen unvollständig.
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Den Donald geben
vom 27.09.2025