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Aus: Ausgabe vom 27.09.2025, Seite 8 / Inland
Genozid in Gaza

»Ich frage mich, welche Lehren wir daraus ziehen«

Berlin: Wegen Protestschild gegen Genozid in Gaza Verurteilte geht in Berufung. Ein Gespräch mit Martina Winkler
Interview: Carmela Negrete
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Sie sind im Juni zu einer Geldstrafe von 1.500 Euro verurteilt worden, weil Sie auf einem Plakat die Frage »Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt?« gestellt hatten und damit allein durch das Regierungsviertel liefen. Was erhoffen Sie sich vom Berufungsverfahren?

Das Urteil ist nicht gerechtfertigt. Von Anfang an war für mich klar, dass ich dagegen vorgehen werde. Es geht mir weniger darum, ein gewünschtes Ergebnis zu bekommen, sondern vielmehr darum, einen Vergleich zu haben. Ich sehe mich nicht in der Schuld und möchte eine Bestätigung für mich und auch für andere.

Was sagt Ihre Anwältin zur Entscheidung?

Sie war von Anfang an davon überzeugt, dass das Urteil zu meinen Gunsten ausfallen müsste. Auch andere Juristen, mit denen ich gesprochen habe, haben das so eingeschätzt.

Warum glauben Sie, dass es diesmal anders laufen könnte?

Gerade in Bezug auf Palästina-Fälle haben verschiedene Richter sehr unterschiedliche Entscheidungen getroffen. Das zeigt mir, dass es wichtig ist, den Prozess bei einem anderen Richter erneut durchzuführen.

Waren Sie damals überrascht, dass es überhaupt zu einer Anzeige kam?

Damit habe ich definitiv nicht gerechnet. Ich war überzeugt, dass Meinungs- und Redefreiheit mich schützen. Ich hätte nie gedacht, dass das, was ich tat, auch nur im Entferntesten strafbar sein könnte.

Haben Sie den Eindruck, dass in der Palästina-Solidaritätsbewegung hier mehr Menschen aus der internationalen Community aktiv sind?

Ja, ich habe auch den Eindruck, dass es mehr Menschen mit arabischem Hintergrund sind.

Könnte die internationale Anerkennung der Lage in Gaza als Genozid durch die UN-Menschenrechtskommission Einfluss auf das Verfahren haben?

Viele hier lebende Menschen verstehen inzwischen, dass es sich um einen Genozid handelt, weil es durch internationale Instanzen bestätigt wurde. Aber viele fühlen sich nicht verantwortlich und setzen es auf eine Stufe mit anderen Kriegen, wie dem in der Ukraine.

Sehen Sie eine Erklärung dafür in der Tatsache, dass die Bundesregierung und Unternehmen mit Sitz in Deutschland mitverantwortlich dafür sind, was israelische Soldaten in Gaza anrichten?

Definitiv. Menschen, die das militärische Vorgehen Israels in Palästina kritisieren oder ganz einfach ihre Solidarität mit den Palästinensern ausdrücken, erfahren oft Repressionen oder verlieren ihren Job. Viele Menschen sind deshalb vorsichtig. Dazu kommt die Rolle der Medien, die bestimmte Narrative verbreiten und so die öffentliche Meinung prägen.

Für Menschen, die Ihren Fall nicht kennen: Was hat Sie motiviert, die Plakate herzustellen und mit sich zu führen?

Ich bin vor etwa eineinhalb Jahren nach Berlin gezogen. Nun lebe ich in einer Stadt, die zugleich Regierungssitz ist. Ich arbeite im sozialen Bereich und habe die Stadt liebgewonnen. Was meine Motivation für das Tragen der Plakate angeht: Ich verfolge das militärische Vorgehen Israels in Gaza seit dem 7. Oktober 2023 täglich. Als dann in kürzester Zeit so viele Menschen durch die israelische Armee getötet und sogar Krankenhäuser angegriffen wurden, war das für mich unerträglich. Die Welt hat live zugesehen. Das war traumatisierend. Ich war verzweifelt und überfordert und für mich war klar: Ich kann nicht zu Hause sitzen und gar nichts tun. Das Einzige, was mir noch blieb, war, auf die Straße zu gehen, Plakate hochzuhalten und die Öffentlichkeit damit zu konfrontieren.

Meine Großeltern waren Zeitzeugen des Holocausts. Die wichtigste Lehre ist für mich, dass wir als Deutsche nie wieder Verbrechen gegen die Menschheit zulassen dürfen – an niemandem. Mir ist es wichtig, dass niemand denkt, ich würde den Holocaust relativieren. Im Gegenteil: Ich frage mich, welche Lehren wir daraus ziehen. Es ist gefährlich, wenn Deutsche denken, das Thema ginge sie nichts an. Wir tragen sehr wohl Verantwortung.

Martina Winkler (Name geändert) hatte im Berliner Regierungsviertel aus Protest gegen den Genozid in Gaza ein Schild mit der Aufschrift »Haben wir aus dem Holocaust nichts gelernt?« getragen und wurde dafür in erster Instanz verurteilt.

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